Zu Benjamins heutigem Wiegenfest ein Text aus der
Einbahnstraße, zugegebenermaßen bloß deswegen, als dass ich diese
Sammlung Benjaminscher "Aphorismen, Scherze, Träume" (so Benjamin in einer ersten Skizzierung an Gershom Sholem am 22.12.1924, zitiert nach Benjamin, Werke und Nachlass, Band 8, S.260) erst vor wenigen Tagen gelesen habe. Das 1928 bei Rowohlt erschienene Büchlein trägt schon den Eindruck der Benjaminschen Hinwendung zum Marxismus sowjetischer Prägung, die nicht zuletzt durch seine Affäre mit der lettischen Schauspielerin
Asja Lacis (für die Benjamin im Winter 1926/27 in die Sowjetunion reiste, als sie in einem Moskauer Sanatorium untergebracht war) angeregt wurde. Eine weitere Prägung war die Beschäftigung mit
Ludwig Klages, was zusammen ein leicht seltsames Gebräu ergibt, das Benjamin selber als "anthropologischen Materialismus" verstand, das man vielleicht auch als "dionysischer Bolschewismus" bezeichnen könnte (besonders ausgeprägt im letzten Text der
Einbahnstraße "Zum Planetarium"). Hier neigt man dann doch dazu dem zeitgenössischen Rezensenten aus Ungarn zuzustimmen, wenn er schreibt: "Das Buch stimmt traurig, denn es enthält wirr durcheinander Edelsteine und wertloses Glas. Der Autor macht aber die Auslese überaus schwierig und schon das Motto des Buches erweckt ein eigenartiges Gefühl, denn es lautet in der Originalschreibart: 'Diese Straße heißt Asja-Lacis-Straße, nach der die sie als Ingenieur im Autor durchgebrochen hat.' Es dürfte aber eine Sackgasse sein!" (
Pester Lloyd vom 23.3.1928, zitiert nach Benjamin, WuN, 8, S.517).
LEHRMITTEL
PRINZIPIEN DER WÄLZER ODER DIE KUNST, DICKE BÜCHER ZU MACHEN
I. Die ganze Ausführung muß von der dauernden wortreichen Darlegung der Disposition durchwachsen sein.
II. Termini für Begriffe sind einzuführen, die außer bei dieser Definition selbst im ganzen Buch nicht mehr vorkommen.
III. Die im Text mühselig gewonnenen begrifflichen Distinktionen sind in den Anmerkungen zu den betreffenden Stellen wieder zu verwischen.
IV. Für Begriffe, über die nur in ihrer allgemeinen Bedeutung gehandelt wird, sind Beispiele zu geben: wo etwa von Maschinen die Rede ist, sind alle Arten derselben aufzuzählen.
V. Alles, was a priori von einem Objekt feststeht, ist durch eine Fülle von Beispielen zu erhärten.
VI. Zusammenhänge, die graphisch darstellbar sind, müssen in Worten ausgeführt werden. Statt etwa einen Stammbaum zu zeichnen, sind alle Verwandtschaftsverhältnisse abzuschildern und zu beschreiben.
VII. Von mehreren Gegnern, denen dieselbe Argumentation gemeinsam ist, ist jeder einzeln zu widerlegen.
Das Durchschnittswerk des heutigen Gelehrten will wie ein Katalog gelesen sein. Wann aber wird man soweit sein, Bücher wie Kataloge zu schreiben? Ist das schlechte Innere dergestalt in das Äußere gedrungen, so entsteht ein vortreffliches Schriftwerk, in dem der Wert der Meinungen beziffert ist, ohne daß sie deswegen feilgeboten werden.
Die Schreibmaschine wird dem Federhalter die Hand des Literaten erst dann entfremden, wenn die Genauigkeit typographischer Formungen unmittelbar in die Konzeption seiner Bücher eingeht. Vermutlich wird dann neue Systeme mit variablerer Schriftgestaltung benötigen. Sie werden die Innervation der befehlenden Finger an die Stelle der geläufigen Hand setzen.
Eine Periode, die, metrisch konzipiert, nachträglich an einer einzigen Stelle im Rhythmus gestört wird, macht den schönsten Prosasatz, der sich denken läßt. So fällt durch eine kleine Bresche in der Mauer ein Lichtstrahl in die Stube des Alchimisten und läßt Kristalle, Kugeln und Triangel aufblitzen.
(Benjamin, WuN, 8, S.31-32).