März 31, 2009
Kann Marx zum Verständnis der aktuellen Wirtschaftskrise beitragen? (Résumé)
1) Nicht einmal innerhalb der drei Bände des Kapitals gibt es eine konsistente Krisentheorie.
2) Die Krise von 1873 hat Marx dazu geführt, seine frühere Krisentheorie zu überdenken.
Interludium: 1873 hat grössere Ähnlichkeit mit der jetzigen Krise als 1929.
3) Proletarier aller Länder, spaltet euch!
4) Geld hat keinen Herr.
5) Protektionismus ist die Organisation des Kriegszustandes im Frieden.
6) Eine Ära der Prosperität folgt auf die Krise, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.
März 30, 2009
Kann Marx zum Verständnis der aktuellen Wirtschaftskrise beitragen? (Number 6 in a series)
In diesen Briefen an Danielson geht es nicht zuletzt auch darum, daß Marx zu rechtfertigen versucht, wieso er gut 13 Jahre nach Erscheinen von Kapital Band I den zweiten Band noch immer nicht abschliessen konnte. Im dritten Brief erklärt Marx, dies sei durch den Ablauf und Charakter der Krise verschuldet, die ihm offenbar seine bisherigen Erklärungsmodelle ein wenig durcheinander gebracht haben:
"Ich hätte unter keinen Umständen den zweiten Band veröffentlicht, ehe die augenblickliche industrielle Krise in England ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Phänomene sind diesmal ganz eigenartig, sie unterscheiden sich in vieler Beziehung von den früheren, und dies (...) erklärt sich leicht durch die Tatsache, daß niemals zuvor der englischen Krise ungeheuere und fast schon fünf Jahre andauernde Krisen in den Vereinigten Staaten, Südamerika, Deutschland, Österreich usw. vorausgingen. Man muß also den gegenwärtigen Verlauf beobachten, bis die Dinge ausgereift sind, dann erst kann man sie 'produktiv konsumieren', das heißt 'theoretisch'." (MEW, 34, S.370-371).
Marx gesteht sogar ein, daß ihm die neuerliche "Masse an Material" aus den USA und Rußland, ihm einen glücklichen "Vorwand" liefere, seine "Untersuchungen fortzusetzen, 'anstatt sie endgültig abzuschließen' " (MEW, 34, S.372). D.h. Marx hat sich zu diesem Zeitpunkt offenbar schon damit abgefunden, daß sein Opus Magnum, Das Kapital, nie zu Ende geschrieben wird; er will seine Kritik der politischen Ökonomie eigentlich gar nicht abschliessen. Dies erscheint mir zumindest aber auch als Absage an die Idee eines in sich geschlossenen Marxschen Systems, wie es bereits zu diesem Zeitpunkt von der sich bildenden marxistischen Partei (und von Friedrich Engels) propagiert wurde. Marx gefällt sich offenbar eher (auch wenn er das wohl nie öffentlich zugegeben hätte) in der Rolle des Beobachters, des Empirikers, für den "der Weg das Ziel ist": Marx will sein "System" gar nicht abschliessen, da er es vorzieht, immer größere Mengen an Wissen sich anzueignen - wie auch die unzählige Auswahl an Sachthemen, etwa in Marx' Exzerptheften bezeugt. Jedoch hat dieses Konsumieren mit fortschreitendem Alter nichts "Produktives" mehr an sich: nach 1873 publiziert Marx fast nicht mehr (es sei denn als Ghost Writer bei einem Kapitel von Engels' Anti-Dühring), und das letzte zu Lebzeiten unter dem eigenen Namen von Marx veröffentlichte Buch bleibt der erste Band des Kapitals.
Dass sich Marx diese Muße und Ruhe erlaubt, liegt nicht nur an seinem sich verschlechternden Gesundheitszustand, es liegt auch daran, dass er nunmehr - ganz unabhängig von seinen empirischen Beobachtungen, und ganz im Gegenteil zu seiner Panik in den späten 1850ern, als er drängte seine Kritik noch abzuschliessen, bevor der Kapitalismus gänzlich zu Grunde ginge - der festen Überzeugung eine neue Ära der Prosperität folge der Krise so sicher wie das Amen in der Kirche:
"Wie sich nun diese Krise auch entwickeln mag - deren detaillierte Beobachtung für den Erforscher der kapitalistischen Produktion und für den professionellen Theoretiker freilich von höchster Wichtigkeit ist -, sie wird wie ihre Vorgängerinnen vorübergehen und einen neuen 'industriellen Zyklus' mit allen seinen Phasen von Prosperität usw. einleiten." (MEW, 34, S.372).
(wird fortgesetzt).
März 29, 2009
März 27, 2009
März 26, 2009
Völkischer Beobachter included
Das Gericht hat festgehalten, dass nicht Hitler und Goebbels, sondern der Eher-Verlag als Urheber zu gelten hat. Da das Urheberrecht in diesem Fall 70 Jahre nach Erscheinen erlischt, kann Zeitungszeugen, sofern der Freistaat Bayern in der Berufung nicht doch noch gewinnt, Zeitungen des Eher-Verlags der Jahre 1933-1938 nachdrucken.
Ich persönlich begrüsse das, bisher habe ich noch in jeder Ausgabe der Zeitungszeugen Neues gelernt. Zuletzt hat man jedoch etwas arg viel auf die katholische Germania zurückgegriffen - ein bißchen Abwechslung könnte nicht schaden.
Mein Kampf wird übrigens ab 2015 (70 Jahre nach dem Tod des Verfassers) im Public Domain sein, was ja eigentlich eine gute Gelegenheit wäre, eine historisch-kritische Ausgabe dieses weltgeschichtlich doch einigermaßen bedeutsamen Buches zu veröffentlichen. Da die deutschen Volksvertreter ihr Volk allerdings für derart unmündig halten (oder die hitlersche Überzeugungskraft für so groß ???), dass sie davon ausgehen die bloße Lektüre von Mein Kampf würde Millionen in überzeugte Nationalsozialisten verwandeln, ist zu befürchten, dass dem noch ein Gesetz zuvorkommen wird.
März 25, 2009
Rudolf Rocker - Über den Begriff des Kleinbürgers
Zum heutigen Geburtstag von Rudolf Rocker, ein später Text des bekanntesten Autoren des deutschsprachigen Anarchosyndikalismus über den "Kleinbürger" Proudhon:
Proudhon. Ich habe nicht nur alle seine Werke, sondern auch seine 14 Bände starke Korrespondenz mit großem Nutzen gelesen. Ich bin sogar heute noch im Besitz einer vollständigen Sammlung aller seiner Tageszeitungen, aus denen man erst ein richtiges Bild über ihn und seine Zeit gewinnen kann.Wer da glaubt, Proudhon einfach als Kleinbürger abtun zu können, hat sich nie die Mühe gegeben, ihn wirklich kennen zu lernen. Dies ist übrigens nur in Deutschland der Fall, wo unter dem Einfluß des Marxismus jede andere soziale Richtung verdrängt wurde oder nie richtig aufkommen konnte. Es war Marx selbst, der mit dem inhaltslosen Wort Kleinbürger Proudhon und jeden ihm nicht bequemen Gegner abzufertigen versuchte, und gerade bei uns in Deutschland hat man dieses wie eine Offenbarung aufgefasst, ohne sich auch nur die Mühe zu geben, sich die Frage zu stellen, was man eigentlich darunter verstehen soll.
Was ist ein Kleinbürger? Im besten Falle doch nur ein sehr unbestimmter sozialogischer Begriff. Man kann darunter einen Menschen verstehen, der unter behäbigen wirtschaftlichen Verhältnissen sein Leben fristet. Aber was ist damit gewonnen? Gar nichts. Wenn man beweisen könnte, dass ein Mensch, der wirtschaftlich einer bestimmten sozialen Schicht angehört, in seinem Denken und Handeln vollständig von dieser Zugehörigkeit abhängig ist, so wäre die Frage schnell gelöst. Aber gerade diesen Beweis konnte bisher niemand erbringen. Fast alle großen Pioniere des sozialistischen Gedankens kamen aus dem Lager des Kleinbürgertums, der Großbourgeoisie, der Aristokratie und der Intellektuellen. Nur Weitling, Proudhon und einige wenige mehr kamen aus dem Arbeiterstande. (Wohlverstanden! ich spreche hier nicht von der Gefolgschaft des Sozialismus, sondern von seinen theoretischen Begründern.) Wenn ich hier betone, dass Proudhon aus der Arbeiterschaft kam und manche Jahre seines Lebens sein Brot als Schriftsetzer verdienen musste, so betrachte ich dies keineswegs als seinen besonderen Vorzug und noch viel weniger als die Ursache seiner geistigen Entwicklung.
Über die inneren Ursachen der schöpferischen Begabung eines so genialen Menschen, wie Proudhon unbedingt gewesen ist, wissen wir vorläufig noch sehr wenig oder gar nichts. Sogar der schärfste Psychologe hat uns bis jetzt dieses Geheimnis der Natur nicht enträtseln können; sicher aber ist, dass dieser innere Schöpfertrieb gewiß nicht auf der Zugehörigkeit eines Menschen zu einer bestimmten Volksschicht erklärt werden kann. Auf Proudhon aber kann die Bezeichnung Kleinbürger, auch wenn wir sie rein soziologisch betrachten, schon deshalb keine Anwendung finden, weil er seiner Abstammung nach nie dem Kleinbürgertum angehörte, und auch später nicht, als er die Schriftsetzerei aufgegeben hatte und sich ganz der Schriftstellerei ergeben hatte.
Das wollte auch Marx darunter nicht verstanden wissen. Er benutzte dieses Wort in einem rein verächtlichen Sinn, weil er glaubte, seinen Gegner damit umso tiefer treffen zu können. Wäre ihm das Wort lediglich ein soziologisches Einteilungsmittel gewesen wie z.B. dem Geographen die Einteilung der Erde in Länge- und Breitegrade, so hätte er seinen intimsten und vielleicht einzigen wirklichen Freund, den reichen Fabrikanten Friedrich Engels, ähnlich beurteilen müssen, dessen wirtschaftliche Verhältnisse ja noch weit über die Lebenshaltung der Kleinbürgers hinausgingen.
Doch daran dachte er gar nicht. Das Wort hatte für ihn, trotz der materialistischen Geschichtsauffassung, eine rein psychologische Bedeutung mit einem höhnenden Beigeschmack. Was er darunter verstanden wissen wollte, war ein Kleingeist, der über die Niederungen des Denkens nicht hinauskommt oder, was man im gewöhnlichen Sprachgebrauch einen Philister nennt. Heute erfüllt das Wort „Konterrevolutionär“ dieselbe Aufgabe, und weil auch dieses Kompliment bereits bis zum Überdruß eintönig wurde, so beehrt man neuerdings jeden, der nicht auf die Weisheit des Kreml schwört, wohl auch als „Faschist“, da man gerade keinen anderen Patentausdruck auf Lager hat.
Wer aber Proudhon als Philister oder gar als Kleingeist betrachtet, der hat nie versucht, in sein Werk einzudringen oder ihm sogar nur als Mensch gerecht zu werden. Proudhon war, ohne Zweifel, einer der kühnsten Denker aller Zeiten und hat Probleme aufgeworfen, welche die Menschen noch auf Jahrhunderte hinaus beschäftigen werden. Dazu war er ein echter Kämpfer, der mit unbestechlicher Redlichkeit seiner inneren Überzeugung folgte und nie aus Bequemlichkeit oder persönlicher Berechnung Dinge verschwieg, die gesagt werden mussten. Kein Mann wurde von den Reaktionären aller Schattierungen so bitter gehasst wie er, was er häufig genug am eigenen Körper fühlen musste. Ein Mann, der jahrelang für seine Überzeugung im Gefängnis schmachten musste und sich später, bereits von Krankheiten geplagt, neuen Verfolgungen nur durch die Verbannung entziehen konnte, war sicher kein Philister. Wie immer man seine Anschauungen beurteilen mag, diesen Vorwurf kann ihm mit gutem Gewissen keiner machen.
Man hat Proudhon häufig den Vorwurf der Inkonsequenz gemacht, weil er in späteren Werken Dinge anders beurteilt hat als in seinen Erstlingsschriften. Aber gerade darin besteht ja seine ganze Größe. Er war ein Mensch, der unermüdlich mit sich selber rang und gerade deshalb stets im Werden begriffen war. Konsequenz beginnt bei den meisten erst dann, wenn die Gedanken eingefroren werden. Er selbst sagte einmal mit leiser Ironie: „ein konsequenter Mensch ist einer, der geistig fertig ist und nicht mehr über sich hinauskommt.“ Diese Worte sollten wir uns gerade heute, wenn durch die heillose Flut oder Schlagworte der Geist zu versanden beginnt, immer wieder ins Gedächtnis rufen. Erst wenn wir uns wieder von dem Propagandaunrat der heute so geschäftigen Rattenfänger von rechts und links endgültig befreien werden, um den großen Problemen, die unsere Zeit uns gestellt hat, wirklich näherzutreten, wird ein neuer geistiger Aufstieg beginnen können. Je schneller und gründlicher dies geschieht, desto besser.
Die freie Gesellschaft, vol. IV, 38 (1953).
März 22, 2009
März 18, 2009
Weltmarkt Illustrated
An die Stelle der alten, durch Landeserzeugnisse befriedigten Bedürfnisse treten neue, welche die Produkte der entferntesten Länder und Klimate zu ihrer Befriedigung erheischen. An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur."
März 17, 2009
Kann Marx zum Verständnis der aktuellen Wirtschaftskrise beitragen? (Number 5 in a series)
Marx behauptet in dieser Rede im Wesentlichen, dass er den Freihandel dem Schutzzollsystem vorziehe, da letzteres konservativ sei, während der Freihandel letztlich der Sache der Revolution diene:
"[Das Freihandelssystem] zersetzt die bisherigen Nationalitäten und treibt den Gegensatz zwischen Proletariat und Bourgeoisie an die Spitze. Mit einem Wort, das System der Handelsfreiheit beschleunigt die soziale Revolution. Und nur in diesem revolutionären Sinne, meine Herren stimme ich für den Freihandel."
Nicht zufällig erinnert diese Argumentation an das Loblied auf die revolutionäre Funktion der Bourgeoisie in der Weltgeschichte aus dem Manifest der Kommunistischen Partei, das etwa zur gleichen Zeit entstand (und wiederum auf eine ähnlichen Argumentation aus Victor Considérants Manifeste de la démocratie au XIXe siècle aufbaut, dem das Kommunistische Manifest überhaupt viel verdankt).
Schon diese strategische Zustimmung für den Freihandel geht dem Monde Diplo jedoch zu weit; man müsse diese im "historischen Kontext" verstehen: "Er wollte (...) den Freihandel als Rammbock gegen eine bäuerliche, konservative Gesellschaftsordnung einsetzen." Der Monde Diplo hingegen bevorzugt Keynes' "National Self-Sufficiency", so der Titel eines Aufsatzes von 1933, auf den sich Jacques Sapir dort positiv bezieht. In einer Zeit wo vom Europäischen Gewerkschaftsbund über Fidel Castro bis hin zur trotzkistischen Orthodoxie alle Welt vor dem um sich greifenden ökonomischen Nationalismus und Protektionismus warnt, bricht Le Monde Diplomatique, als Vorkämpfer gegen die "pensée unique" der Globalisten, eine Lanze für die nationale Abschottung, für nationale Selbstgenügsamkeit. Zurück in die Dreissiger also?
Man höre und staune: "In der Geschichte fiel der Protektionismus stets mit der Industrialisierung und wirtschaftlicher Entwicklung zusammen oder hat sie sogar ausgelöst", schreibt Paul Baroich. Hingegen habe Freihandel, ausser im Falle des "manchesterliberalen Grossbritanniens", das jedoch auf den durch 150 Jahre Protektionismus errungenen Vorsprung aufbauen gekonnt habe, immer negative Inzidenzen auf das wirtschaftliche Wachstum gehabt!
Nun mag es ja durchaus so sein, dass Protektionismus in manchen historischen Epochen durchaus für die Staaten, die sich ihn leisten konnten, durchaus Vorteile gebracht hat, jedoch allein im Sinne der Durchsetzung nationaler Machtinteressen - die traditionelle imperialistische Politik war in der Tat: Abschottung des Binnenmarkts, Kolonialismus und militärische Expansionspolitik nach aussen. Wie bereits der junge Marx 1842 wusste:
"Handel und Gewerbe sollen beschützt werden, aber eben das ist der streitige Punkt, ob Schutzzölle Handel und Gewerbe wahrhaft beschützen? Wir betrachten vielmehr ein solches System als Organisation des Kriegszustandes im Frieden (...)." [MEW, Ergänzungsband 1, S.398].
Es ist in dieser Hinsicht kein Wunder, dass es in erster Linie die kleineren bzw. schwächeren Staaten, die auf Exporte angewiesen sind, sich gegen protektionistische Tendenzen der Mächtigeren wehren: so derzeit in der EU die Mittel- und Osteuropäer gegen die Franzosen, oder auch die afrikanischen Staaten gegen die Agrarsubventionen in Nordamerika und Europa. Für den Monde Diplomatique ist es allerdings genau umgekehrt herum: hier drückt Protektionismus angeblich den Schutz der "Völker" gegenüber der "ungebändigten Globalisierung" aus. Das ist aber letztlich auch eine Zivilisationsfrage - was für eine Welt wollen wir? Weltmarkt oder "geschlossner Handelsstaat"? Melting Pot oder "Unantastbarkeit der Kulturen"? Kosmopolitismus oder Abschottung?
(Wird fortgesetzt)
März 12, 2009
Frauen an der Orgel
She - Outta Reach
März 11, 2009
In eigener Sache
"En usant d'un terme qu'il n'utilise pas, on peut dire qu'il est bien davantage 'de gauche' que socialiste. Contre l'ordre établi, avec les ouvriers, contre la bourgeoisie, contre le capitalisme, la religion et l'empereur, mais hostile à ce que sera le programme des socialistes, de L. Blanc à nos jours."
Ob die Beschreibung wirklich so gut auf Proudhon passt, darüber könnte man lange streiten; auf mich passt sie allemal.
März 09, 2009
Jean-Baptiste und John Maynard
Die Gegenüberstellung der beiden, Say und Keynes, hat mich allerdings etwas grübeln lassen. Offensichtlich ging der Redner davon aus, dass Keynes von den beiden der Fortschrittlichere, der "Linke" ist. Nun war Jean-Baptiste Say ein Teilnehmer der französischen Revolution (Mitglied der Nationalgarde unter dem Kommando von Lafayette), ein Girondin, sein Leben lang Republikaner und Antiklerikaler; kurz, im Kontext der Zeit stand Say zweifelsohne sehr weit links.
Keynes hingegen vertritt in seiner politischen Grundsatzrede "The End of Laissez-Faire" von 1926 die Rückkehr zum mittelalterlichen Zunftwesen und eine Form des Ständestaates; in der Einleitung zur ersten deutschen Ausgabe der General Theory of Employment, Interest and Money (1936) schreibt Keynes dass sich seine Theorie sicherlich besser unter den Bedingungen eines totalitären Staates anwenden liesse; Gewerkschaften hielt Keynes für "Tyrannen" die man bekämpfen müsse (oder: durch die Einführung feststehender Löhne überflüssig machen sollte); ansonsten war Keynes ein elitärer Snob, der sich selbst zur "educated bourgeoisie" zählte, und für das "boorish proletariat" nur Verachtung übrig hatte.
Wie kommt es also heute dass Keynes heute als Linker gilt, und sogar vorzugsweise von Gewerkschaftlern zitiert wird, der Revolutionär Say hingegen als konservativ? Sicherlich spielt dabei Ignoranz eine grosse Rolle (Say und Keynes sind im wesentlichen Chiffren, wer macht sich schon die Mühe alte ökonomische Werke im Original zu lesen?). Nichtsdestotrotz ist es interessant, wie solche Verschiebungen in der öffentlichen Meinung, besser: in der öffentlichen Verbildlichung vor sich gehen.
März 08, 2009
Frauen im Rock
März 07, 2009
Marx, dieser Liberale
Ich habe gestern mein Exemplar der Anthologie des "liberalen" Proudhon erhalten, "La liberté, partout et toujours", aus der "Bibliothèque Classique de la Liberté" (in gewisser Weise passt das ganz gut als fast zeitgleich erscheinende Ergänzung zu meinen "aventures de Proudhon au pays des nazis", zum "faschistischen" Proudhon - bestellbar z.B. hier).
Ich habe mich gefragt, ob man einen ähnlichen Sammelband nicht auch zu Marx publizieren könnte, mit Passagen wie folgender aus der Kritik des Gothaer Programms, wo der alte Trierer gegen die sozialdemokratische Losung des freien Staats polemisiert:
"Es ist keineswegs Zweck der Arbeiter, die den beschränkten Untertanenverstand losgeworden, den Staat frei zu machen. Im Deutschen Reich ist der 'Staat' fast so 'frei' wie in Rußland. Die Freiheit besteht darin, den Staat aus einem der Gesellschaft übergeordneten in ein ihr durchaus untergeordnetes Organ zu verwandeln, und auch heutig sind die Staatsformen freier oder unfreier im Maß, worin sie die 'Freiheit des Staats' beschränken." (Ausgabe Verlag für fremdsprachige Literatur, Peking, 1971, S.25).
Das ist doch eigentlich klassischer Liberalismus in Reinkultur (keine Sorge im Übrigen, gleich auf der darauffolgenden Seite ist von der "revolutionären Diktatur des Proletariats" die Rede). Und ein solches Unterfangen hätte zumindest den Reiz den linksetatistischen Mainstream etwas zu verwirren.
(siehe auch: http://www.liberation.fr/tribune/010182441-karl-marx-etait-un-liberal)