2003 erschien im antideutschen ça ira-Verlag eine Zusammenstellung von drei Texten des Rätekommunisten Willy Huhn zum Verhältnis Marxismus, Sozialdemokratie und Nationalsozialismus, unter dem Titel Der Etatismus der Sozialdemokratie. Zur Vorgeschichte des Nazifaschismus. Obwohl Huhns Buch Trotzki - der gescheiterte Stalin (Karin Kramer Verlag, 1973) wesentlich zu meiner Entwicklung von der Mainstream- zur libertären Linken beigetragen hat, habe ich erst jetzt diesen im großen und ganzen empfehlenswerten Band gelesen. Überrascht haben mich darin die positiven Bezüge auf den "englischen Professor" [sic!] Hayek (S.36, 70) und auf Mises, "der die ökonomische Unmöglichkeit des bisherigen [!] Sozialismus schlagend nachgewiesen hatte, weil die Übereinstimmung von Herstellung und Verbrauch ohne Zentralstatistik und behördliche Bestimmung des Konsums, also ohne eine gigantische Bürokratie nicht möglich ist" (S.153). Erschreckend allerdings die Entgleisungen S.162-163: Nicht nur dass Huhn sich Ende 1939 einen deutschen Sieg im (noch weitestgehend auf Polen beschränkt gebliebenen) Krieg erhofft und gar - eigentlich im Gegensatz zum Rest des Textes - den "fruchtbaren Kampf für die Gemeinschaft und gegen den Egoismus" der NSDAP lobt, auch die ausführliche Bibliographie im Anhang listet einige Titel unveröffentlichter Manuskripte auf, die eine gewisse Geistesverwandtschaft der Genossen der Vieille Taupe in Huhns späteren Jahren vermuten lassen: "USAmerikas Destruktionsplan für Deutschland", "Rassismus und Faschismus in Judentum und Zionismus", "Schuld oder Schicksal? Ketzerische Betrachtungen zur Kriegsschuldfrage in beiden Weltkriegen", "Paradoxien - jüdische Vorfahren von Nazigrößen". Klingt alles etwas nach NPD-Büchertisch...
Nichtsdestotrotz: Huhns Analyse des nationalen Sozialismus der Mehrheits-SPD ist nicht ganz von der Hand zu weisen, trotz der Einbindung in eine Geschichtsteleologie (siehe S.165), aus der eine "historische Notwendigkeit des deutschen Nationalsozialismus" (S.142), allerdings auch seiner Überwindung, konstruiert wird. Hier drei charakterisierende Zitate, inklusive ein "Was wäre wenn-Szenario":
"Eines verdichtet sich mir jedenfalls zu immer stärkerer Gewißheit: hätte Sinowjew nicht die USPD gespalten, so daß der linke Flügel in die KPD ging, und der rechte in die SPD heimkehrte, dann wäre die Mehrheitssozialdemokratie einen politischen Weg weitergegangen, der dem Nationalsozialismus kaum noch etwas übrig gelassen haben würde. So hielten die zurückkehrenden USPD-Genossen den in Görlitz [1921] programmatisch bestimmten Kurs auf, der die Mehrheitssozialdemokratie mit jener Funktion belastet hätte, welche die NSDAP nach 1925 immer bewußter auf sich nahm, seit dem Jahre also, in dem das neue Heidelberger Programm (als Kompromiß zwischen dem Erfurter und dem Görlitzer!) die Mehrheitssozialdemokratie daran hinderte, allzu offen und allzu bald nationalsozialistisch zu werden. Die sozialen Kräfte, die bis dahin ihre Hoffnungen auf die MSPD gesetzt hatten, mußten sich ab 1925 nach einer anderen Massenbasis umsehen, bzw. eine solche finanzieren und organisieren. Der deutsche Nationalsozialismus entstand also 1914 und zu einem wesentlichen Teile innerhalb der rechten Sozialdemokratie (...)." (S.76; geschrieben 1952/53).
"Der Nationalsozialismus löst also auf deutschem Boden und unter den gesellschaftlichen Bedingungen der deutschen Nation die geschichtliche Aufgabe, die das imperialistische Zeitalter stellt und die auf russischem Boden und unter den gesellschaftlichen Bedingungen der russischen Nation der Bolschewismus löste. Und nicht die Sozialdemokratie, die doch ihrem Wesen nach wie die russische Sozialdemokratie diese Aufgabe hätte lösen können, sondern der Nationalsozialismus nimmt sie auf sich, weil die SPD den Gedanken der Parteidiktatur ablehnte. Damit brachte nicht die Sozialdemokratie, sondern bringt der Nationalsozialismus eine geschichtliche Entwicklung zu einem praktischen Abschluß, die theoretisch von den bürgerlichen 'Kathedersozialisten' antizipiert und von dem 'Verein für Sozialreform' konzipiert wurde. Darum bezeichne ich den Nationalsozialismus historisch als die konsequentere Sozialdemokratie!"
(S.118; geschrieben 1939).
"Der Staatssozialismus beruht (...) auf der theoretischen Überzeugung, daß der Staat - um mit Hilferding zu reden! - das bewußte Vollzugsorgan der Gesellschaft sei; oder anders ausgedrückt: daß die Gesellschaft anders als in der Form des Staates nicht existieren könne. Außerdem beruht er auf dem Eindruck des liberalen Kapitalismus, daß die Wirtschaft der Tummelplatz der Kapitalisten sei, ohne daß der Staat hier etwas dreinzureden habe. Bei einer derartigen Voraussetzung muß infolgedessen jede Einflußnahme des Staates auf die Wirtschaft als eine Beeinträchtigung des Kapitalismus erscheinen. Und wenn dieser Staat demokratisch-parlamentarisch präsentiert und deshalb als Ausdruck des 'Allgemeinwillens' angesehen werden kann, dann kann das politische Eingreifen in die Wirtschaft als eine Handlung des 'bewußten Vollzugsorgans der Gesellschaft' betrachtet werden. So ist es dann möglich, in solchen Akten des Staates und erst recht in Verstaatlichungsmaßnahmen eine Machterweiterung nicht nur des Staates, sondern der Gesellschaft zu erblicken. Der ganze historische Prozeß gewann bei diesen Ideologen den Schein eines 'allmählichen Hineinwachsens in den Sozialismus'[.] Diese Ideologen ahnen noch heute nicht, wie richtig sie diesen Prozeß gesehen h[a]ben, denn gerade sie pflegen entsetzt darüber zu sein, daß er uns alle allmählich in den Nationalsozialismus hineinwachsen ließ!" (S.143-144; geschrieben 1939).
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