Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass ich mir Michael Winterbottoms Film The Shock Doctrine nach dem gleichnamigen Buch von Naomi Klein antun werde. Als zu plakativ, zu simplistisch, zu leicht durchschaubar in punkto der ideologischen Zielsetzung habe ich die meisten, wenn nicht alle, der engagierten Dokumentarfilme der letzten Jahre empfunden. In dieser Hinsicht glaube ich, kann ich mir auch The Shock Doctrine sparen. Endgültig abgetörnt wurde ich allerdings durch die zustimmende Rezension von Luc Caregari in der grünalternativen Wochenzeitung Woxx. In dieser Rezension stehen derart hanebüchene Behauptungen, dass man entweder davon ausgehen kann, dass der Rezensent entweder einiges durcheinanderbringt, oder (meine Vermutung) dass der Film doch ein sehr seltsames Geschichtsbild vermittelt. Am meisten verblüfft hat mich folgender Satz über die Entwicklung von Chile nach dem Putsch vom 11.9.1973 (der gleich mal als ausschließlich US-amerikanisch "orchestriertes" Projekt beschrieben wird...):
"(...) les adeptes de l'école de Chicago - les Chicago Boys - se sont rendus au Chili pour conseiller Pinochet dans ses réformes économiques. Les conséquences sont désastreuses, l'inflation augmente au galop tout comme le taux de chômage et le pouvoir d'achat de la population s'évanouit littéralement. Pour masquer cet échec cuisant, le régime de Pinochet recourt à la terreur et à la répression qui coûteront la vie à des dizaines de milliers de personnes."
Damit wird der Ablauf der Ereignisse genau umgedreht: Tatsächlich kannte Chile 1972 unter Allende eine Hyperinflation von (je nach Angaben) 150% oder gar über 200%, die für die chilenischen Lohnarbeiter einen Reallohnverlust von etwa einem Viertel bedeutete. Diese Tatsache trug dazu bei, dass Teile der Bevölkerung, insbesondere der Mittelschichten, bereit waren, einen Militärputsch der Rechten zu unterstützen (erst wenige Tage vor dem Putsch zog die Allende-Regierung eine Abwertung der nationalen Währung um 40% durch). Die schwerste Periode der Repression erfolgt unmittelbar nach dem Sturz Allendes; sämtliche Gewerkschaften werden aufgelöst, Oppositionelle werden ermordet, gefoltert oder verschwanden. An der desolaten Lage der Wirtschaft und an der hohen Inflation ändert sich während dieser Phase des Terrors recht wenig, außer dass zum Teil drastische Senkungen der Löhne durchgeführt werden. Die "Chicago Boys" wurden dann im April 1975 von Pinochet ins Land geholt - durchaus gegen den Widerstand eher populistisch und korporatistisch orientierter Teile der Militärjunta. In den kommenden Jahren werden eine ganze Reihe von Reformen im Sinne der Chicago Boys durchgeführt (Privatisierungen, Öffnung des Außenhandels, Liberalisierung des Finanzsektors, sowie 1979 eine grundsätzliche Reorganisation des Arbeitsrechts), die tatsächlich zunächst eine Verbesserung der wirtschaftlichen Lage mit sich bringt. Jedoch bricht die chilenische Wirtschaft 1982-83 wieder - im Kontext der internationalen Schuldenkrise - völlig zusammen. Pinochet reagiert unter anderem dadurch, dass er die seit 1973 ohnehin manipulierte Lohnindexierung 1982 völlig abschafft und - was wohl kaum in The Shock Doctrine erwähnt wird - 1983 den gesamten Finanzsektor nationalisiert. Ende 1983 liegt die Staatsquote fast wieder auf dem Level der Allende-Zeit. Eine weitere Liberalisierungsphase, allerdings mit stärkerem Rückgriff auf staatliche Konjunkturunterstützung, ohne Chicago Boys, dafür mit Weltbank und IWF, wird 1985 in Gang gebracht und führt zu einem Exportboom. Profitieren kann Pinochet hiervon nicht, sondern ist 1988 so ziemlich der erste Diktator, der es fertigbringt, seine eigene Volksbefragung zu verlieren.
Anyway, zurück zum Thema: Die Umkehr der Folge der historischen Ereignisse liegt eigentlich ganz im Sinne von Kleins tendenziell verschwörungstheoretischen Blick auf die Geschichte. Das bei Friedman herausgegriffene Zitat einer liberalen Variante der altlinken Zusammenbruchs- und Revolutionstheorie ("Only a crisis - actual or perceived - produces real change. When that crisis occurs, the actions that are taken depend on the ideas that are lying around. That, I believe, is our basic function: to develop alternatives to existing policies, to keep them alive and available until the politically impossible becomes politically inevitable" - das Zitat folgt im Kontext [Einführung zur Neuauflage von Capitalism and Freedom von 1982] übrigens auf ein sapere aude-Argument, direkt im Anschluss berichtet Friedman darüber wie er sich in den 1960ern gegen die Wehrpflicht eingesetzt habe, die mittlerweile tatsächlich abgeschafft worden sei) wird zum Masterplan einer kleinen Clique von obskuren, nicht "demokratisch gewählten" Gestalten hochstilisiert, die hinter den Kulissen den Weltenlauf bestimmen - so muss ausgerechnet der liberale Antiimp Friedman in der Caregari-Rezension als Verantwortlicher für alle Kriege vom Falklandkrieg bis zum War on Terror herhalten. Die Ideen Milton Friedmans bestimmen in der Kleinschen Geschichtsauffassung unser "gesellschaftliches Sein". In dieser Hinsicht ist es nur logisch, dass die Geschichte sich nach der Theorie zu richten hat, und nicht die Theorie nach der Geschichte.
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