"Die altbekannte Politik hat diese Konferenz [die "1. Sozialistische Konferenz" zu Kassel, Mai 1980] gleich zu Beginn schon wieder eingeholt. Schon wieder wird ein Konsens unterstellt: Wir befänden uns in einer Schicksalswende. Der Kapitalismus ist (wieder mal) am Ende, diesmal macht ihm die ökologische Krise den Garaus. Bahro: 'Das Feld geht zu Ende, das das seinem inneren Wesen nach expansive Kapital beackern kann'. Weshalb eigentlich brauchen Linke immer gleich so starken Tobak, wenn sie begründen wollen, daß sie Politik machen? Wäre es nicht sinnvoll gewesen, erst einmal darüber nachzudenken, warum sich gerade diese Denkform so großer Beliebtheit erfreut, anstatt von vornherein so zu denken? Die Behauptung vom Ende einer Epoche übt natürlich Faszination aus. Auch die Studentenbewegung wurde von ihr getrieben. Der Weltlauf hat sich nicht darum gekümmert. Warum soll nun zehn Jahre später dieselbe Behauptung, grün eingefärbt, größere Glaubwürdigkeit haben?
Ich stelle mir vor, in dieser Versammlung würde jetzt einer aufstehen und das glatte Gegenteil behaupten: Seit 35 Jahren ist der Kapitalismus mit seinen Krisen ohne die große Katastrophe fertig geworden, also wird er es auch die nächsten 35 Jahre. Mindestens. Wer so in Kassel geredet hätte, der hätte ob seines unterentwickelten Problembewußtseins nur mitleidsvolles Kopfschütteln verursacht.
Womöglich ist das Gerede von der Schicksalswende tatsächlich nur eine neue linke Mode. Ein Indiz spricht dafür: In Windeseile hat sich auf der Konferenz ein neuer Jargon ausgebreitet, dessen wichtigste Stereotype Bahro schon während der publizistischen Vorbereitung ausgestreut hat: In Anlehnung an Gramsci ist jetzt vom 'neuen historischen Block' und vom 'Block an der Macht' die Rede. So wenig diese Begriffe ausgewiesen sind, so begierig werden sie aufgegriffen. Kaum ein Redner versäumt, die neuen Vokabeln zu benutzen, damit sein Beitrag en vogue ist und er selber wahrgenommen wird. Groß scheint das Bedürfnis zu sein, mit einer Neuheit auf den linken Markt zu kommen, nachdem sich die Diktatur des Proletariats als Ladenhüter erwiesen hat.
Vielleicht liegt es daran, daß linke Politik hierzulande zuerst Intellektuellen-Politik ist, und die Intellektuellen haben nun mal den Hang zum Höheren. Vielleicht daher der süße Duft der Geschichtsträchtigkeit, der durch den Saal waberte. Die Intellektuellen wachsen mit den Aufgaben, die sie sich stellen, ob es nun wirkliche oder eingebildete sind. Und die Katastrophe, mit der uns gedroht wird, ist um so größer, je kleiner die Zahl der Intellektuellen, die sie beschwören. Wenn das stimmt, hat sich in Kassel die sektiererische Politik der 70er Jahre fortgesetzt, die ja auch von der Vorstellung lebte, man sei gerade deshalb eine verschwindende Minderheit, weil man der Wahrheit so nahe sei. Auserwählte kann es immer nur ein paar geben.
Der Konferenz hätte es gut getan, wenn die Versammelten über den Begriff von Politik debattiert hätten. So aber blieb vieles beim alten. Schon wieder saßen KPD-Funktionäre auf dem Podium, als wäre ihr Unternehmen nicht erst ein paar Wochen zuvor in Konkurs gegangen; als hätten sie es gar nicht nötig, für eine Weile still zu sein, sich die Ruhe zu gönnen, die man zum Nachdenken braucht; sich wenigstens für kurze Zeit wie schlichte Bürger zu benehmen, die Samstagabend an der Theke über Fußball und Politik reden, wissend, daß sie auf beide keinen Einfluß haben. Aber nein, sie sitzen schon wieder auf dem Podium und handhaben die Geschäftsordnung mit Bravour. Neben ihren Stühlen immer noch dieselben metallenen Aktenköfferchen. Nur die Papiere, die sie hervorziehen, sind jetzt andere. Wie Vertreter, die von einer Firma zur anderen gewechselt sind. Auf der Suche nach anderen Hebeln, die irgendwoanders angesetzt werden müssen, um diesen Kapitalismus aus den Angeln zu heben. Wer weiß, auf welchem Podium sie in ein paar Jahren sitzen."
Auszug aus: Detlef Michel, "Mondlandung in Kassel. Vom alternativen Zirkus zur Sozialistischen Konferenz und zurück.", in Berliner Hefte, 16, 1980, S.97-98.
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