Interessanter Bericht zur Lage in den "Heiligen Stätten" 1854, gefunden bei Karl Marx:
"Die Frage der Heiligen Stätten ist nichts anderes als die Frage eines Protektorats über die in Jerusalem angesiedelten Religionsgemeinden der griechisch-orthodoxen Christen und über die Gebäude, die sie auf dem heiligen Boden besitzen, insbesondere über die Kirche des Heiligen Grabes. Es versteht sich, daß Besitz in diesem Falle nicht Eigentum bedeutet, das den Christen durch den Koran untersagt ist, sondern nur das Recht der Nutznießung. Dieses Recht der Nutznießung schließt die anderen Gemeinden keineswegs davon aus, ihre Andacht an demselben Ort zu verrichten; die Besitzer haben keine weiteren Privilegien als das Recht, die Schlüssel zu behalten, die Gebäude instand zu halten und zu betreten, die Heilige Lampe zu entzünden, die Räume mit dem Besen zu fegen und die Teppiche auszubreiten, was im Orient ein Symbol des Besitzes ist. Ebenso wie die Christenheit an den Heiligen Stätten ihren Höhepunkt erreicht, hat auch die Frage des Protektorats daselbst ihren höchsten Ausdruck gefunden.
Teile der Heiligen Stätten und der Kirche des Heiligen Grabes sind im Besitze der Katholiken, Griechisch-Orthodoxen, Armenier, Abessinier, Syrer und Kopten. Zwischen all diesen verschiedenen Prätendenten kam es nun zu einem Konflikt. Die Souveräne Europas, die in diesem religiösen Streit eine Frage ihres Einflusses im Orient sahen, wandten sich zuerst an die Herren des Grund und Bodens, fanatische und gierige Paschas, die ihre Stellung mißbrauchten. Die Ottomanische Pforte und ihre Agenten befolgten ein höchst ermüdendes système de bascule (1), gaben abwechselnd den Katholiken, Griechisch-Orthodoxen und Armeniern recht, forderten und erhielten Gold von allen Seiten und machten sich über sie alle lustig. Kaum hatten die Türken einen Ferman zugestanden, der das Recht der Katholiken auf den Besitz eines strittigen Ortes anerkannte, als sich die Armenier mit einer noch volleren Börse einstellten und sogleich einen entgegengesetzten Ferman durchsetzten. Dieselbe Taktik wurde den Griechisch-Orthodoxen gegenüber befolgt, die es überdies verstanden, wie offiziell in verschiedenen Fermanen der Pforte und in 'hudjets' (Gutachten) ihrer Agenten bezeugt wird, sich rechtswidrige und unechte Anrechte zu verschaffen. Bei anderen Gelegenheiten wurden die Entscheidungen der Regierung des Sultans durch die Habgier und das Übelwollen der Paschas und Subalternagenten in Syrien vereitelt. Dann mußten neue Verhandlungen gepflogen, neue Kommissare ernannt und neue Geldopfer gebracht werden. Was die Pforte in früheren Zeiten aus pekuniären Beweggründen tat, tut sie heutzutage aus Furcht, um Schutz und Begünstigung zu erhalten. Nachdem sie den Forderungen Frankreichs und den Ansprüchen der Katholiken gerecht geworden ist, beeilte sie sich, Rußland und den Griechisch-Orthodoxen dieselben Bedingungen einzuräumen, um auf diese Weise einem Sturm zu entgehen, dem zu begegnen sie sich ohnmächtig fühlt. Es gibt kein Heiligtum, keine Kapelle, keinen Stein von der Kirche des Heiligen Grabes, bei denen man nicht den Versuch gemacht hätte, sie zur Entfachung eines Streits zwischen den verschiedenen christlichen Gemeinden auszunutzen.
Alle die verschiedenen christlichen Sekten, die sich um das Heilige Grab gruppieren, verbergen hinter ihren religiösen Forderungen ebenso viele politische und nationale Nebenbuhlerschaften.
Jerusalem und die Heiligen Stätten bewohnen Nationen, die sich nach ihrem religiösen Bekenntnis unterteilen in Katholiken, Griechisch-Orthodoxe, Armenier, Kopten, Abessinier und Syrier. Es gibt 2.000 Griechisch-Orthodoxe, 1.000 Katholiken, 350 Armenier, 100 Kopten, 20 Syrier und 20 Abessinier - im ganzen 3.490. Im Ottomanischen Reich zählt man 13.730.000 Griechisch-Orthodoxe, 2.400.000 Armenier und 900.000 Katholiken. Diese sind alle wiederum unterteilt. Die griechisch-orthodoxe Kirche, von der ich oben sprach, die den Patriarchen von Konstantinopel anerkennt, unterscheidet sich wesentlich von der russisch-orthodoxen, deren geistliches Oberhaupt der Zar ist, und von den Hellenen, deren Oberhäupter der König und die Synode von Athen sind. Ähnlich unterteilen sich die Katholiken in Römisch-Katholische, Griechisch-Unierte und Maroniten, die Armenier in Gregorianische und Armenisch-Katholische; denselben Teilungen unterliegen Kopten und Abessinier. Die drei an den Heiligen Stätten vorherrschenden Religionen sind die griechisch-orthodoxe, die katholische und die armenische. Die katholische Kirche, kann man sagen, repräsentiert vorwiegend lateinische Völker, die griechisch-orthodoxe Kirche Slawen, Turkoslawen und Hellenen, und die anderen Kirchen Asiaten und Afrikaner.
Man stelle sich vor, daß alle diese streitenden Völkerschaften das Heilige Grab belagern, daß die Mönche sich bekriegen und der scheinbare Gegenstand ihrer Kämpfe ein Stern aus der Grotte Bethlehems, ein Teppich, der Schlüssel zu einem Heiligtum, ein Altar, ein Schrein, ein Stuhl, ein Kissen - irgendein lächerlicher Vorteil ist!
Um einen solchen Mönchskreuzzug zu verstehen, ist es unerläßlich, erstens ihre Lebensweise und zweitens die Art ihrer Behausungen ins Auge zu fassen.
'Alle diese religiösen Abfälle verschiedener Nationen', erzählte vor kurzem ein Reisender (2), 'leben in Jerusalem voneinander abgesondert, feindlich und mißtrauisch, eine nomadische Bevölkerung, die sich ständig aus Pilgern rekrutiert und durch Pest und Elend dezimiert wird. Der Europäer stirbt oder kehrt nach einigen Jahren nach Europa zurück, die Paschas und ihre Garde gehen nach Damaskus oder Konstantinopel, und die Araber fliehen in die Wüste. Jerusalem ist ein Ort, wohin jeder einmal reist, doch wo niemand bleibt. Jeder in der heiligen Stadt erwirbt seinen Unterhalt durch seine Religion - die Griechisch-Orthodoxen oder die Armenier von den 12.000 oder 13.000 Pilgern, die jährlich Jerusalem besuchen, die Katholiken von den Subsidien und Almosen, die sie von ihren Glaubensgenossen in Frankreich, Italien etc. bekommen.'
Außer ihren Klöstern und Heiligtümern besitzen die christlichen Nationen in Jerusalem kleine Wohnräume oder Zellen, die an die Kirche des Heiligen Grabes angebaut sind und von den Mönchen bewohnt werden, die Tag und Nacht diesen heiligen Ort bewachen müssen. Zu bestimmten Zeiten werden diese Mönche in ihren Pflichten durch ihre Brüder abgelöst. Diese Zellen haben nur eine Tür, die sich nach dem Inneren des Tempels öffnet; ihre Nahrung erhalten diese geistlichen Wächter durch ein Pförtchen von außen. Die Türen der Kirche sind verschlossen und werden von Türken bewacht, die sie nur gegen Bezahlung öffnen und je nach ihrer Laune oder Habgier schließen.
Die Streitigkeiten zwischen Geistlichen sind die giftigsten, sagt Mazarin. Nun denke man sich diese Geistlichen, die nicht nur von, sondern auch in diesen Heiligtümern miteinander leben müssen!
Um das Bild zu vollenden, sei daran erinnert, daß die Väter der katholischen Kirche, die sich fast ausschließlich aus Römern, Sardiniern, Neapolitanern, Spaniern und Österreichern zusammensetzen, alle gleich eifersüchtig sind auf das französische Protektorat und es gern durch ein österreichisches, sardinisches oder neapolitanisches ersetzen möchten; die Könige von Sardinien und Neapel führen beide schon den Titel König von Jerusalem. Dazu kommt noch, daß die ansässige Bevölkerung Jerusalems etwa 15.500 Seelen zählt, worunter 4.000 Muselmanen und 8.000 Juden sind. Die Muselmanen, die etwa ein Viertel der ganzen Bevölkerung bilden und aus Türken, Arabern und Mauren bestehen, sind selbstverständlich in jeder Hinsicht die Herren, denn bei der Schwäche ihrer Regierung in Konstantinopel sind sie in keiner Weise beengt. Nichts gleicht aber dem Elend und den Leiden der Juden in Jerusalem, die den schmutzigsten Flecken der Stadt bewohnen, genannt Harêth-el-Yahud, im Viertel des Schmutzes zwischen Zion und Moria, wo ihre Synagogen liegen; sie sind unausgesetzt Gegenstand muselmanischer Unterdrückung und Unduldsamkeit, von den Griechisch-Orthodoxen beschimpft, von den Katholiken verfolgt und nur von den spärlichen Almosen lebend, die ihnen von ihren europäischen Brüdern zufließen. Die Juden sind jedoch keine Ureinwohner, sondern kommen aus verschiedenen entfernten Ländern und werden nach Jerusalem nur durch den Wunsch gezogen, das Tal Josaphat zu bewohnen und an denselben Stellen zu sterben, wo der Erlöser erscheinen soll.
'In Erwartung des Todes', sagt ein französischer Schriftsteller (3), 'leiden sie und beten. Ihre Blicke auf den Berg Moria gerichtet, wo sich einst der Tempel Salomos erhob und dem sie sich nicht nähern dürfen, vergießen sie Tränen über das Unglück Zions und ihre Zerstreuung in der ganzen Welt.'
Um das Maß der Leiden dieser Juden voll zu machen, ernannten England und Preußen 1840 einen anglikanischen Bischof in Jerusalem, dessen offen zugegebene Aufgabe ihre Bekehrung ist. 1845 wurde er fürchterlich durchgeprügelt und von Juden, Christen und Türken gleicherweise verhöhnt. Von ihm kann man tatsächlich sagen, er habe den ersten und einzigen Anlaß zu einer Einigung zwischen sämtlichen Religionen in Jerusalem gegeben.
Man wird nun begreifen, weshalb der gemeinsame Gottesdienst der Christen an den Heiligen Stätten sich auflöst in eine Folge wüster Prügeleien zwischen den verschiedenen Sekten der Gläubigen; daß sich andrerseits hinter diesen religiösen Prügeleien nur ein weltlicher Kampf nicht nur von Nationen, sondern von Völkerschaften verbirgt, und daß das Protektorat über die Heiligen Stätten, das dem Westeuropäer so lächerlich, dem Orientalen aber so überaus wichtig erscheint, nur eine der Phasen der orientalischen Frage ist, die sich unaufhörlich erneuert, die stets vertuscht, aber nie gelöst wird."
New York Daily Tribune vom 15. April 1854, hier nach MEW, 10, S.173-176.
(1) Schaukelsystem
(2) Famin
(3) Famin
Hier findet man die von Marx benutzte Quelle: Histoire de la rivalité et du protectorat des Eglises chrétiennes en Orient von César Famin.
1 Kommentar:
dazu passend: Mitschnitt einer Mönchsprügelei in der Grabeskirche ... schon im 4. Jh. waren Mönche die "Männer fürs Grobe" der Kirche
Kommentar veröffentlichen