Gelesen bei Peter Sloterdijk:
"Vom piratischen Atheismus her denken die Modernen die Gefahren der libertären und der anarchistischen Enthemmung, hier hat die konservative Partisanenphobie ihre Quelle. Die seit der Antike notorische Angst der Ordnungshüter vor den Neuerern wandelt sich neuzeitlich zur Angst des Landmenschen vor dem seegängigen Unternehmer, bei dem, auch wenn er den Zylinder trägt und bei Tisch ein Fischmesser zu gebrauchen weiß, der Pirat hervorlugt. Darum kann sich kein Terraner ohne Grauen eine Weltlage vorstellen, in welcher der Primat des Politischen, und das heißt hier: des Festländischen, nicht mehr in Kraft wäre. Denn wenn sich der Pirat an Land begibt, welche Verbrechenspläne trägt er in der Brusttasche? Wo hält er seine Waffen verborgen? Mit welchen verlockenden Argumenten läßt er seine Spekulationen anpreisen? Unter welchen humanitären Masken kaschiert er seine verruchten Intentionen? Wo Räuber in guter Gesellschaft auftreten, sind ihre Sophisten, die Berater, nicht weit. Seit zweihundert Jahren sortieren die Bürger ihre Ängste: Der Anarcho-Maritime wird an Land im günstigsten Fall zu einem Raskolnikow (der tut, was er will, es aber bereut), im weniger günstigen zu einem de Sade (der tut, was er will, und die Reue negiert), im schlimmsten Fall zu einem Neoliberalen (der tut, was er will, und sich dafür, Ayn Rand zitierend, selber zum Mann der Zukunft ausruft).
Die Piraterie strahlt freilich auch auf andere Weise ins bürgerliche Denken ein: Schon früh wird sie von den Phantasien der Festlandsbewohner zu einer libertären Gegenwelt verklärt, in der alles möglich wäre, nur keine Langeweile. Jahrhunderte vor der Künstlerbohème liefert die maritime Bohème den Evasionsträumen von Bürgern, die etwas anderes als Bürger sein wollen, unerschöpfliche Stimulationen. Auf Stichen des 18. Jahrhunderts treten weibliche Korsarinnen auf die Bühne - mit gezogenem Degen und offener Bluse, die Brüste hervorspringend - wie um den Beweis zu führen, daß die neue Frau auf dem Meer als Räuberin aus eigenem Recht agiert. Bis zu Brechts Dreigroschenoper (1928) und Pasolinis Scritti corsari (1973-75) läßt sich das kriminalromantische Begehren verfolgen, das die Große Freiheit vom Meer her kommen sieht. Auch Friedrich Schiller hat in den Entwürfen zu seinen 'Seestücken' mit dem Gedanken gespielt, 'die schwimmende Republik der Flibustiers' zu portraitieren. Der Verfasser der Räuber mußte zugeben, daß die Seeräuber die eindrucksvollere Gegenkultur bildeten."
Im Weltinnenraum des Kapitals. Für eine philosophische Theorie der Globalisierung, Frankfurt am Main, 2006, S.181-182.
Zur Verklärung der Piraterie als libertärer Gegenwelt, siehe z.B. das Daniel Defoe zugeschriebene Libertalia (das ich selbst mit 20 begeistert gelesen habe). Mehr über pirate utopias hier. In diesem Zusammenhang bietet sich natürlich auch ein Hinweis auf zeitgenössische Utopien an, z.B. das von Patri Friedman (Enkel von Milton) und anderen propagierte seasteading.
Bonus: der Held meiner Kindheit.
4 Kommentare:
My hero is Ragnar Danneskjöld, but I will print your post and the links to try to understand it better. Although the translation German-English works better than German-Spanish, I am afraid I will misunderstand you :-)
Oh, there actually is a Randian pirate hero ? I wasn't even aware of that. I suppose neither was Sloterdijk,when he wrote the text above.
Just discovered this: Patri Friedmans "History of libertarian countries at sea": http://patrissimo.livejournal.com/1362824.html
Oh, yes, Ragnar is the randian pirate. He is the best character of Atlas Shrugged, along with Francisco D'Anconia, the tragic hero :-)
Nasty guy that king of Tonga! I understand they have some decent rugby though. I read about Sealand many years ago. The main business was to sell Sealand passports :-D
By the way, in Oceanía there are a bunch of pretty islands to establish a nice libertarian country. I don't know for how long it would last. Human nature is quite twisted. And the king of Tonga can show up any minute :-D
Kommentar veröffentlichen