März 30, 2009

Kann Marx zum Verständnis der aktuellen Wirtschaftskrise beitragen? (Number 6 in a series)

Am Ausführlichsten äußert sich Marx über die große Krise der Jahre 1873 und folgende in einer Reihe von Briefen an Nikolai Danielson, dem russischen Übersetzer des Kapitals, geschrieben am 15. und 28. November 1878, sowie am 10. April 1879. Zuvor war die Krise, nachdem sie Mitteleuropa, Rußland und die USA getroffen hatte, nun auch mit einiger Verspätung ins Mutterland des Kapitalismus, nach England vorgestoßen.

In diesen Briefen an Danielson geht es nicht zuletzt auch darum, daß Marx zu rechtfertigen versucht, wieso er gut 13 Jahre nach Erscheinen von Kapital Band I den zweiten Band noch immer nicht abschliessen konnte. Im dritten Brief erklärt Marx, dies sei durch den Ablauf und Charakter der Krise verschuldet, die ihm offenbar seine bisherigen Erklärungsmodelle ein wenig durcheinander gebracht haben:
"Ich hätte unter keinen Umständen den zweiten Band veröffentlicht, ehe die augenblickliche industrielle Krise in England ihren Höhepunkt erreicht hat. Die Phänomene sind diesmal ganz eigenartig, sie unterscheiden sich in vieler Beziehung von den früheren, und dies (...) erklärt sich leicht durch die Tatsache, daß niemals zuvor der englischen Krise ungeheuere und fast schon fünf Jahre andauernde Krisen in den Vereinigten Staaten, Südamerika, Deutschland, Österreich usw. vorausgingen. Man muß also den gegenwärtigen Verlauf beobachten, bis die Dinge ausgereift sind, dann erst kann man sie 'produktiv konsumieren', das heißt 'theoretisch'." (MEW, 34, S.370-371).

Marx gesteht sogar ein, daß ihm die neuerliche "Masse an Material" aus den USA und Rußland, ihm einen glücklichen "Vorwand" liefere, seine "Untersuchungen fortzusetzen, 'anstatt sie endgültig abzuschließen' " (MEW, 34, S.372). D.h. Marx hat sich zu diesem Zeitpunkt offenbar schon damit abgefunden, daß sein Opus Magnum, Das Kapital, nie zu Ende geschrieben wird; er will seine Kritik der politischen Ökonomie eigentlich gar nicht abschliessen. Dies erscheint mir zumindest aber auch als Absage an die Idee eines in sich geschlossenen Marxschen Systems, wie es bereits zu diesem Zeitpunkt von der sich bildenden marxistischen Partei (und von Friedrich Engels) propagiert wurde. Marx gefällt sich offenbar eher (auch wenn er das wohl nie öffentlich zugegeben hätte) in der Rolle des Beobachters, des Empirikers, für den "der Weg das Ziel ist": Marx will sein "System" gar nicht abschliessen, da er es vorzieht, immer größere Mengen an Wissen sich anzueignen - wie auch die unzählige Auswahl an Sachthemen, etwa in Marx' Exzerptheften bezeugt. Jedoch hat dieses Konsumieren mit fortschreitendem Alter nichts "Produktives" mehr an sich: nach 1873 publiziert Marx fast nicht mehr (es sei denn als Ghost Writer bei einem Kapitel von Engels' Anti-Dühring), und das letzte zu Lebzeiten unter dem eigenen Namen von Marx veröffentlichte Buch bleibt der erste Band des Kapitals.

Dass sich Marx diese Muße und Ruhe erlaubt, liegt nicht nur an seinem sich verschlechternden Gesundheitszustand, es liegt auch daran, dass er nunmehr - ganz unabhängig von seinen empirischen Beobachtungen, und ganz im Gegenteil zu seiner Panik in den späten 1850ern, als er drängte seine Kritik noch abzuschliessen, bevor der Kapitalismus gänzlich zu Grunde ginge - der festen Überzeugung eine neue Ära der Prosperität folge der Krise so sicher wie das Amen in der Kirche:
"Wie sich nun diese Krise auch entwickeln mag - deren detaillierte Beobachtung für den Erforscher der kapitalistischen Produktion und für den professionellen Theoretiker freilich von höchster Wichtigkeit ist -, sie wird wie ihre Vorgängerinnen vorübergehen und einen neuen 'industriellen Zyklus' mit allen seinen Phasen von Prosperität usw. einleiten." (MEW, 34, S.372).
(wird fortgesetzt).

Keine Kommentare: