Folgende Passage, welche die Verwandlung des Begriffs "kritisch" in der Folge von Kant in einen magischen Terminus durch die deutsche (Früh-)Romantik behandelt (tatsächlich hat sich dieses eigentümlich magische des Begriffs ja bis heute bewahrt - ein Begriff wird zu etwas höherem transsubstantiiert, wenn er mit dem Adjektiv "kritisch" belegt wird, und der Kritisierte kann gerade durch die Inanspruchnahme des Begriffs "kritisch" für sich selber, als "unkritisch" abgetan werden; zugleich - so argumentiert Benjamin - rechtfertigt man die relative aber notwendige Unzulänglichkeit des eigenen Standpunkts als bloße Kritik), stammt aus Benjamins vergleichsweise unbekannt gebliebenen Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (zuerst erschienen 1920 in Bern):
"Von allen philosophischen und ästhetischen Fachausdrücken dürften die Worte Kritik und kritisch in den Schriften der Frühromantiker leicht die häufigsten sein. 'Du schaffst eine Kritik', schreibt Novalis im Jahre 1796 seinem Freunde, als er ihm das höchste Lob zuteil werden lassen will, und zwei Jahre später spricht [Friedrich] Schlegel es mit Selbstbewußtsein aus, daß er 'aus den Tiefen der Kritik' begonnen habe. 'Höherer Kritizismus' ist den Freunden eine geläufige Bezeichnung für alle ihre theoretischen Bestrebungen. Durch Kants philosophisches Werk hatte der Begriff der Kritik für die jüngere Generation eine gleichsam magische Bedeutung erhalten; jedenfalls verband sich mit ihm ausgesprochenermaßen gerade nicht der Sinn einer bloß beurteilenden, nicht produktiven Geisteshaltung, sondern für die Romantiker und für die spekulative Philosophie bedeutete der Terminus kritisch: objektiv produktiv, schöpferisch aus Besonnenheit. Kritisch sein hieß die Erhebung des Denkens über alle Bedingungen so weit treiben, daß gleichsam zauberisch aus der Einsicht in das Falsche der Bindungen die Erkenntnis der Wahrheit sich schwang. In dieser positiven Bedeutung gewinnt das kritische Verfahren die denkbar nächste Verwandtschaft mit dem reflektierenden, und in Aussprüchen wie dem folgenden gehen beide ineinander über: 'In jeder Philosophie, die mit Beobachtung ihres eigenen Verfahrens, mit Kritik anfängt, hat der Anfang immer etwas Eigentümliches'. Dasselbe bedeutet es, wenn Schlegel vermutet: 'Abstraktion, und besonders praktische, ist wohl am Ende nichts als Kritik'. Denn er las bei Fichte, daß 'keine Abstraktion ... ohne Reflexion und keine Reflexion ohne Abstraktion' möglich sei. So ist es endlich nicht einmal mehr unverständlich, wenn er zum Aerger seines Bruders [August Wilhelm], der das 'wahren Mystizismus' nennt, die Behauptung aufstellt, 'jedes Fragment sei kritisch', 'kritisch und Fragmente wäre tautologisch'. Denn ein Fragment - auch dies ein mystischer Terminus - ist für ihn, wie alles geistige, ein Reflexionsmedium. - Nicht so weit, als man meinen sollte, weicht diese positive Betonung des Kritikbegriffs vom Kantischen Sprachgebrauch ab. Kant, in dessen Terminologie gar nicht wenig mystischer Geist enthalten ist, hatte sie vorbereitet, indem er den beiden verworfenen Standpunkten des Dogmatismus und Skeptizismus nicht sowohl die wahre Metaphysik, in der sein System gipfeln sollte, als 'Kritik', in deren Namen es inauguriert wurde, entgegenhielt. Man darf also sagen, daß der Kritikbegriff bereits bei Kant doppelsinnig spielt, welcher Doppelsinn sich bei den Romantikern potenziert, weil sie durch das Wort Kritik zugleich auch auf Kants ganze historische Leistung und nicht nur auf seinen Begriff der Kritik Bezug nehmen. Endlich haben sie auch das unvermeidliche negative Moment dieses Begriffs zu bewahren und zu verwenden verstanden. Auf die Dauer konnten die Romantiker eine ungeheure Diskrepanz zwischen dem Anspruch und der Leistung ihrer theoretischen Philosophie nicht übersehen. Da stellt sich zur rechten Zeit wieder der Begriff der Kritik ein. Denn es besagt, so hoch man die Geltung eines kritischen Werkes auch immer bewerte, daß es das Abschließende nicht sein kann. In diesem Sinne haben die Romantiker unter dem Namen der Kritik zugleich die unausweichliche Unzulänglichkeit ihrer Bemühungen eingestanden, als eine notwendige zu bezeichnen gesucht und so endlich diesen Begriff auf die notwendige Unvollständigkeit der Unfehlbarkeit, wie man es bezeichnen kann, angespielt."
(zitiert nach der Kritischen Gesamtausgabe, Band 3, Frankfurt am Main, 2008, S.55-56).
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