Vermutlich waren die Maspero-Bände der Anthologie Ni Dieu, ni maître von Daniel Guérin mit die ersten anarchistischen Bücher, die ich überhaupt gelesen habe; ihnen verdanke ich erste Eindrücke der Schriften Stirners, Proudhons, Bakunins, usw. usf. Auch die kritischen Studien über Proudhon Proudhon, oui et non sind mit in meine eigenen Auseinandersetzungen mit den "dunkleren" Seiten des "Vaters der Anarchie" mit eingeflossen. Nichtsdestotrotz muss ich heute sagen, dass mir Guérins Variante des Anarchismus recht fremd geworden ist. Letztlich blieb Guérin bei seinem Werdegang durch verschiedene linke Gruppierungen bis hin zum organisierten Anarchismus immer ein "engagierter Intellektueller", eigentlich ein linker Politiker, der 1981 sogar einen Wahlaufruf für Mitterand unterstützte. Für den Post-68er Neoanarchismus/Anarchokommunismus, der sich selbst explizit als Teil der politischen Linken verstand, war die bei Guérin vorzufindende Mischung aus romantisierender anarchistischer Heldengeschichte, durch die trotzkistische Brille gelesenen Marx, Arbeiterselbstverwaltung à la PSU und betontem "Antiimperalismus" aber natürlich ein gefundenes Fressen. Da gerade letztere Tendenz häufig zu einer naiven Solidarisierung mit nationalen "Befreiung"sbewegungen und ähnlichen autoritären Organisationen führte, heute anlässlich des 106. Geburtstags Guérins kein Text des Historikers des Anarchismus, sondern eine Kritik seitens der Situationisten, ausnahmsweise einmal in deutscher Übersetzung:
"Das Algerien des libertären Daniel Guérin
Im Dezember 1965 hat Daniel Guérin eine seltsame Analyse von Boumediennes Regime in seiner Broschüre 'Algerien unter Militärherrschaft?' veröffentlicht. Für ihn ist im Juni nichts passiert. Getreu einem alten Schema sieht er sowohl vor als auch nach dem Putsch nur einen 'Bonapartismus' an der Macht, der auf klassische Art an zwei Fronten kämpft: gegen die 'Konterrevolution der eingeborenen Besitzer und gegen die drohende Begeisterung der sich selbst verwaltenden Arbeiter' Was die Außenpolitik betrifft, 'streben beide (Ben Bella und Boumedienne, d.Übers.) nach dem gleichen, geschickten Gleichgewicht zwischen kapitalistischen und sozialistischen Ländern' (S.6). 'In keiner Erklärung des angeblichen 'Revolutionsrates' kommt irgendeine Neuerung zum Vorschein, wird ein neuartiges Programm entworfen'(S.10). Als er am 5.November den Haupttext verfasst hatte, glaubte Guérin doch einige neue, aber nur potentielle Anhaltspunkte erkennen zu können - da die Putschisten wider Willen 'nach rechts' verleitet werden -, die “eine anti-sozialistische Politik anzukündigen scheinen” (S.11, von uns hervorgehoben). Glaubt man etwa, dass Guérin die beträchtlichen Unterschiede zwischen beiden Regimes vernachlässigt, weil er durch die gleiche Verachtung dazu geführt wird, die ein Revolutionär und erklärter Befürworter eines 'libertären Sozialismus' und der Selbstverwaltung für Ben Bella und Boumedienne empfinden kann? Keineswegs! Er empfiehlt keine andere revolutionäre Lösung für die Zukunft als Ben Bellas Restauration: 'Das algerische Volk heute ohne Bezug auf Ben Bella oder durch eine globale politische Kritik des Benbellismus zur Opposition gegen das Regime der Obersten zusammenbringen zu wollen - das wäre ein aussichtsloses Unternehmen' (S.17). Und für Guérin waren die vielfachen Angriffe von Ben Bellas Regime vor dem 19.Juni gegen die Arbeiter, die Leistungen seiner Polizisten und Militärs - die tatsächlich dieselben sind wie heute - nur 'Irrtümer, Zeichen der Schwäche und der Unvollständigkeit' innerhalb einer annehmbaren Gesamtorientierung. Der König war schlecht beraten, schlecht informiert - nur nie verantwortlich. Da Guérin die offenen Kämpfe der benbellistischen Macht gegen die Massen nicht ignorieren kann (er liefert selbst ausgezeichnete Dokumente über sie u.a. über den Kongress der Landarbeiter), muss er die Geschichte neuschreiben, indem er Ben Bella vollständig von seinem eigenen Regime trennt. So S. 12: 'Die Sabotage der Selbstverwaltung, die gewiss ohne Ben Bellas Vorwissen organisiert wurde', S.2: 'Praktisch - das sieht man heute besser - hatte Ben Bella nie freie Hand; beinahe drei Jahre lang ist er Boumediennes Werkzeug, Gefangener und Geisel gewesen'. Kurz - man glaubte, Ben Bella sei an der Macht, sein Sturz zeigte aber, dass es nicht stimmte. Diese erstaunliche rückwirkende Beweisführung ließe sich genauso gut auf den Zar anwenden, den man sich vor 1917 als Alleinherrscher vorstellte. Aber der von Guérin behandelte Fall übersieht auch folgende Frage: wer, wenn nicht Ben Bella, hatte Boumedienne hervorgebracht, und zwar dadurch, dass er selbst durch Boumediennes Waffen zur Macht gelangte? Dass Ben Bella dann Lust bekam, sein Werkzeug loszuwerden und dass er bei diesem Spiel besonders ungeschickt gewesen ist, ist eine andere Sache. Gerade deshalb, weil er vor allem ein Bürokrat war, war er mit rationelleren Bürokraten zunächst solidarisch, bis er ihnen schließlich zum Opfer fiel.
Durch welches Geheimnis lässt sich die Verwirrung eines unserer berühmten Linksintellektuellen erklären und sogar eines der im Prinzip ‘libertärsten’ von ihnen? Durch denselben entscheidenden Einfluss ihrer gemeinsamen Praxis der mondänen Beziehungen, mit deren erbärmlicher Eitelkeit; durch die noch unter dem Lakaiengeist stehende Neigung, den Kopf vor lauter Freude zu verlieren, wenn sie mit den Großen dieser Welt gesprochen haben; durch dieselbe Schwachsinnigkeit endlich, die sie diese Größe unter die verteilen lässt, mit denen sie gesprochen haben. Ob sie die Selbstverwaltung der Massen oder eine Polizeibürokratie befürworten, die 'Linksintellektuellen' der Periode, die wir jetzt verlassen, erfahren immer wieder dieselbe bewundernde Verblendung gegenüber der Macht, der Regierung. Genau in dem Maße, wie sie einer Regierungsrolle nahestehen, faszinieren die Führer der 'unterentwickelten' Länder ihre lächerlichen Professoren der gauchistischen Museumskunde. In den für die grundsätzliche Niedertracht einer ganzen Intellektuellengeneration so aufschlussreichen Memoiren von Simone de Beauvoir genügt die Beschreibung eines Diners bei der russischen Botschaft, um das unbefangene Geständnis einer Kleinlichkeit zur Schau zu stellen, die zu unheilbar ist, um ahnen zu können, dass man über sie lachen wird.
Das Geheimnis ist: Guérin 'kannte' Ben Bella. Er fand ab und zu 'Gehör' bei ihm: 'Als es mir für meinen bescheidenen Anteil Anfang Dezember 1963 gelang, eine kurze Audienz in der Villa Joly zu bekommen, um dem Präsidenten einen Bericht einzureichen, der das Ergebnis von einmonatigen Wanderungen und Beobachtungen im Land und in den selbstverwalteten Betrieben darstellte, hatte ich den Eindruck, einem verstockten Menschen gegenüberzustehen, der von Ali Mahsas und dem Industrie- und Handelsminister Bachir Boumaza mehr oder weniger gegen meine Schlussfolgerungen beeinflusst worden war'. (S.7)
Guérin ist wirklich für die Selbstverwaltung - aber wie Mohammed Harbi begegnet er ihr, erkennt sie und hilft ihr mit seiner Weisheit lieber in der einen Form ihres in einem bevorzugten Helden verkörperten Geistes. Daniel Guérin ist der Weltgeist der Selbstverwaltung bei einer Tasse Kaffee begegnet - daraus folgt alles übrige."
(aus Internationale Situationniste 10, März 1966).
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