"Der Mensch ist der erste Freigelassene der
Schöpfung; er stehet aufrecht. Die Waage des Guten und Bösen, des
Falschen und Wahren hängt in ihm: er kann forschen, er soll wählen. Wie
die Natur ihm zwo freie Hände zu Werkzeugen gab und ein überblickendes
Auge, seinen Gang zu leiten, so hat er auch in sich die Macht, nicht nur
die Gewichte zu stellen, sondern auch, wenn ich so sagen darf, selbst Gewicht zu sein
auf der Waage. Er kann dem trüglichsten Irrtum Schein geben und ein
freiwillig Betrogener werden; er kann die Ketten, die ihn, seiner Natur
entgegen, fesseln, mit der Zeit lieben lernen und sie mit mancherlei
Blumen bekränzen. Wie es also mit der getäuschten Vernunft ging, gehet's
auch mit der mißbrauchten oder gefesselten Freiheit; sie ist bei den
meisten das Verhältnis der Kräfte und Triebe, wie Bequemlichkeit oder
Gewohnheit sie festgestellet haben. Selten blickt der Mensch über diese
hinaus und kann oft, wenn niedrige Triebe ihn fesseln und abscheuliche
Gewohnheiten ihn binden, ärger als ein Tier werden.
Indessen ist er, auch seiner Freiheit nach, und
selbst im ärgsten Mißbrauch derselben, ein König. Er darf doch wählen,
wenn er auch das Schlechteste wählte; er kann über sich gebieten, wenn
er sich auch zum Niedrigsten aus eigner Wahl bestimmte. Vor dem
Allsehenden, der diese Kräfte in ihn legte, ist freilich sowohl seine
Vernunft als Freiheit begrenzt; und sie ist glücklich begrenzt, weil,
der die Quelle schuf, auch jeden Ausfluß derselben kennen, vorhersehen
und so zu
lenken wissen mußte, daß der ausschweifendste Bach seinen Händen nimmer
entrann; in der Sache selbst aber und in der Natur des Menschen wird
dadurch nichts geändert. Er ist und bleibt für sich ein freies Geschöpf,
obwohl die all umfassende Güte ihn auch in seinen Torheiten umfasset
und diese zu seinem und dem allgemeinen Besten lenket. Wie kein
getriebenes Geschoß der Atmosphäre entfliehen kann, aber auch, wenn es
zurückfällt, nach einen und denselben Naturgesetzen wirket, so ist der
Mensch im Irrtum und in der Wahrheit, im Fallen und Wiederaufstehen
Mensch, zwar ein schwaches Kind, aber doch ein Freigeborner; wenn noch
nicht vernünftig, so doch einer bessern Vernunft fähig; wenn noch nicht
zur Humanität gebildet, so doch zu ihr bildbar. Der Menschenfresser in
Neuseeland und Fenelon, der verworfene Pescherei [Feuerländer] und Newton sind
Geschöpfe einer und derselben Gattung."
(Aus den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit; zitiert nach Johann Gottfried Herder, Staat Nation Humanität. Ausgewählte Texte, Würzburg, 2007, S.227-228).
1 Kommentar:
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