Lernt Esperanto ! (1907)
Das eine tun, bedeutet lange nicht, das andere lassen! Und es ist sehr leicht möglich für jeden Kameraden, sich in der Muttersprache zu üben, derselben jene individuelle Kraft zu verleihen, dass sie in Wahrheit dem Ausdruck seiner Persönlichkeit gerecht zu werden vermag, ihre Formschönheiten erhöhte — und dabei zugleich ein guter Esperantist zu sein.
Vor rund einem dreiviertel Jahr hätten die Ausführungen Landauers noch meine unbedingte Zustimmung gefunden. Ich habe sie damals nämlich selbst vertreten, mit derselben Logik, denselben Argumenten. Und diese meine Logik — bekanntlich ein heimtückisches Ding! — wurde bestärkt und fühlte sich bedeutend gehoben durch die Lektüre eines Artikels von Max Nettlau im Londoner Freedom, dessen Titel war: "Eines Anarchisten Ansicht über das Esperanto". Auch dort wurden dieselben Behauptungen gemacht, dem Esperanto jede tiefere Innigkeit und Verinnerlichungsmöglichkeit abgesprochen; ganz wie Landauer es tut, wie ich es getan habe, wie Unzählige es noch tun.
Dennoch hatten wir Unrecht; wenigstens ich, der ich nun das Esperanto ganz flüchtig studierte und nur beflissen war, mir etwa so viel wie Lesefähigkeit in dieser Sprache anzueignen, muss dies heute bekennen. Und die Argumente, die ich gebrauchte und Landauer jetzt wieder anführt, haben bloss den trügerischen Schein der Richtigkeit. In Wahrheit täuschen wir uns selbst über ihre Gediegenheit und verkennen, übersehen dabei gänzlich, dass das Ding, das wir scheinbar widerlegt haben, schon durch massenhafte Beweise seine Lebenskraft und damit seine Berechtigung erwies, bereits so viele Entwicklungsstufen der Vervollkommnung und Besserwerdung durchlief, dass es ganz ausgeschlossen ist, dass das Esperanto je wieder verschwinden könnte.
Gern will ich es eingestehen, dass ich von einem gewissen ästhetischen Standpunkt aus dem Genossen L. recht geben muss. Aber die Ästhetik spielt eine denkbar geringe Rolle in den Lebensfragen der Tagesnot und ihrer Wirrnisse, für welche, also für deren Überwindung das Esperanto ja geschaffen wurde. Und man erschrecke nicht vor dem Wörtlein "geschaffen", demgegenüber sich das von Landauer Gebrauchte weit hübscher und wieder nur scheinbar natürlicher ausnimmt. Denn es ist bloss die Hälfte einer Sache betont, wenn ich sage, dass unsere Sprachen etwas "Gewachsenes", oder Gewordenes, nichts Gemachtes sind. Tatsache ist jedenfalls, dass dieses Wachstum eben ihre Schaffung und Schöpfung bedeutet, es sei denn, man wollte dieses Wachstum als etwas rein Mechanisches ansehen, was Landauer nicht tut. Und in einem solchen Sinn ist auch das Esperanto etwas "Gewachsenes", das wuchs und emporkam, weil es ganz eminenten Bedürfnissen entgegenkommt und das, im Flusse seiner Gebrauchsentwicklung weiter wachsen, sich eine Zukunft, somit eine Vergangenheit erringen wird. Es ist schliesslich alles gewachsen, allmählich geworden, doch nichts, das auch nicht gleichzeitig gemacht wurde; die Aktion gibt den Anstoss, die Entwicklung und das Werden erfolgt erst nach ihm. Auch die bestehenden Sprachen haben unendlich viel des Gemachten an sich!
Niemals haben es die Esperantisten als ihren Programmpunkt aufgestellt, die Verschiedenheiten der Sprachen, all das so wundervoll Vielfältige, das aus Jahrtausende alter Entwicklung hervorging und den Reiz des Lebens, die "prachtvolle Gebärde" der verschiedenen Nationen, ihre Leidenschaften und Veranlagungen in bunter Mannigfaltigkeit zum Ausdruck bringend ergibt, abschaffen oder verwischen zu wollen. Genosse Landauer, die Esperantisten haben es stets betont, dass das Esperanto nur eine Hilfssprache für den alltäglichen Gebrauch und der notwendigsten Geistesverständigung bilden, kurz gerade für die "Plumpheiten, Trivialitäten und Gewöhnlichkeiten" des Lebens — und leider besteht dieses zum grossen Teil aus eben solchen Unzulänglichkeiten — Anwendung finden möge. Aber wenn Sie glauben, dass das Esperanto auch deshalb missverständlich und untauglich sei, weil die verschiedenen Nationen in ihren bestimmten nationalen Eigentümlichkeiten denken und deshalb so sprechen, dann haben Sie eine tiefe Wahrheit ausgesprochen, auf die besonders Mauthner in seiner "Kritik der Sprache" lebhaft hinweist. Ich leugne keineswegs die Richtigkeit dieser Behauptung, nur möchte ich geltend machen, dass sie nicht nur das Esperanto trifft, sondern jede Sprache, dass es das Verhängnisvolle der Sprache auch ein und desselben Volkes — natürlich können wir uns ein solches nur philosophisch vorstellen — ist, von Individuen gesprochen zu werden, die dank ihrer variierenden Vererbungseinflüsse, der graduellen Verschiedenheit ihrer sinnlichen und psychischen Eindrucksfähigkeit sich ebenfalls nur missverständlich verstehen und sich niemals ganz verstehen können. Immerhin, ganz ebenso wie die gemeinschaftliche Volkssprache es Individuen verschiedener Veranlagung gestattet, sich in den allgemeinen Lebensfragen ihrer Existenz zu verständigen, ganz ebenso gestattet, richtiger ermöglicht solches auch das Esperanto unter Individuen verschiedener Nationen, dessen Entwicklung ja noch gar nicht absehbar ist und das mit jeder Einführung in weitere und weitere Kreise an solchen Elementen der Geschmeidigkeit, des Wortsinnes, der Verallgemeinerung des Selbstverständlichen — und das ist uns eigentlich das Sprachliche — gewinnt, dass seine zukünftige Evolution eine verbürgte Sache wird.
Gewiss: eignen wir uns all jene schöne Klarheit und Wortfülle der Sprache an, wie sie unsere Klassiker uns als ein erhabenes Vermächtnis hinterlassen haben. Aber bereichern wir sie auch! Und die Möglichkeit in ein fremdes Land zu gehen und im Augenblicke meiner Ankunft den dann nicht mehr "Fremden" einige gegenseitige erwärmende Herzensworte zurufen, mit ihnen sofort über die Notwendigkeit und Bedürfnisse meiner Persönlichkeit sprechen zu können, diese Möglichkeit bietet nicht nur keine der bestehenden Nationalsprachen dem Proletarier dar, nein, die Verwirklichung bedeutet für den Ankömmling die Erweiterung seines geistigen Horizontes im bedeutsamsten Massstabe, bedeutet eine sofortige, rasch gewonnene Beobachtungsschärfe, die sich auch rückwirkend auf das Können in der Muttersprache äussern kann. Esperanto ist die alltägliche, notwendige Praxis des Gedankenaustausches; Esperanto kann jener breite, sprachliche Strom werden, auf dessen Rücken sämtliche Kulturelemente der verschiedenen Nationen wechselseitig und internationalisierend nach den diversen heimatlichen Küsten und Gestaden gebracht werden können.
Vor rund einem dreiviertel Jahr hätten die Ausführungen Landauers noch meine unbedingte Zustimmung gefunden. Ich habe sie damals nämlich selbst vertreten, mit derselben Logik, denselben Argumenten. Und diese meine Logik — bekanntlich ein heimtückisches Ding! — wurde bestärkt und fühlte sich bedeutend gehoben durch die Lektüre eines Artikels von Max Nettlau im Londoner Freedom, dessen Titel war: "Eines Anarchisten Ansicht über das Esperanto". Auch dort wurden dieselben Behauptungen gemacht, dem Esperanto jede tiefere Innigkeit und Verinnerlichungsmöglichkeit abgesprochen; ganz wie Landauer es tut, wie ich es getan habe, wie Unzählige es noch tun.
Dennoch hatten wir Unrecht; wenigstens ich, der ich nun das Esperanto ganz flüchtig studierte und nur beflissen war, mir etwa so viel wie Lesefähigkeit in dieser Sprache anzueignen, muss dies heute bekennen. Und die Argumente, die ich gebrauchte und Landauer jetzt wieder anführt, haben bloss den trügerischen Schein der Richtigkeit. In Wahrheit täuschen wir uns selbst über ihre Gediegenheit und verkennen, übersehen dabei gänzlich, dass das Ding, das wir scheinbar widerlegt haben, schon durch massenhafte Beweise seine Lebenskraft und damit seine Berechtigung erwies, bereits so viele Entwicklungsstufen der Vervollkommnung und Besserwerdung durchlief, dass es ganz ausgeschlossen ist, dass das Esperanto je wieder verschwinden könnte.
Gern will ich es eingestehen, dass ich von einem gewissen ästhetischen Standpunkt aus dem Genossen L. recht geben muss. Aber die Ästhetik spielt eine denkbar geringe Rolle in den Lebensfragen der Tagesnot und ihrer Wirrnisse, für welche, also für deren Überwindung das Esperanto ja geschaffen wurde. Und man erschrecke nicht vor dem Wörtlein "geschaffen", demgegenüber sich das von Landauer Gebrauchte weit hübscher und wieder nur scheinbar natürlicher ausnimmt. Denn es ist bloss die Hälfte einer Sache betont, wenn ich sage, dass unsere Sprachen etwas "Gewachsenes", oder Gewordenes, nichts Gemachtes sind. Tatsache ist jedenfalls, dass dieses Wachstum eben ihre Schaffung und Schöpfung bedeutet, es sei denn, man wollte dieses Wachstum als etwas rein Mechanisches ansehen, was Landauer nicht tut. Und in einem solchen Sinn ist auch das Esperanto etwas "Gewachsenes", das wuchs und emporkam, weil es ganz eminenten Bedürfnissen entgegenkommt und das, im Flusse seiner Gebrauchsentwicklung weiter wachsen, sich eine Zukunft, somit eine Vergangenheit erringen wird. Es ist schliesslich alles gewachsen, allmählich geworden, doch nichts, das auch nicht gleichzeitig gemacht wurde; die Aktion gibt den Anstoss, die Entwicklung und das Werden erfolgt erst nach ihm. Auch die bestehenden Sprachen haben unendlich viel des Gemachten an sich!
Niemals haben es die Esperantisten als ihren Programmpunkt aufgestellt, die Verschiedenheiten der Sprachen, all das so wundervoll Vielfältige, das aus Jahrtausende alter Entwicklung hervorging und den Reiz des Lebens, die "prachtvolle Gebärde" der verschiedenen Nationen, ihre Leidenschaften und Veranlagungen in bunter Mannigfaltigkeit zum Ausdruck bringend ergibt, abschaffen oder verwischen zu wollen. Genosse Landauer, die Esperantisten haben es stets betont, dass das Esperanto nur eine Hilfssprache für den alltäglichen Gebrauch und der notwendigsten Geistesverständigung bilden, kurz gerade für die "Plumpheiten, Trivialitäten und Gewöhnlichkeiten" des Lebens — und leider besteht dieses zum grossen Teil aus eben solchen Unzulänglichkeiten — Anwendung finden möge. Aber wenn Sie glauben, dass das Esperanto auch deshalb missverständlich und untauglich sei, weil die verschiedenen Nationen in ihren bestimmten nationalen Eigentümlichkeiten denken und deshalb so sprechen, dann haben Sie eine tiefe Wahrheit ausgesprochen, auf die besonders Mauthner in seiner "Kritik der Sprache" lebhaft hinweist. Ich leugne keineswegs die Richtigkeit dieser Behauptung, nur möchte ich geltend machen, dass sie nicht nur das Esperanto trifft, sondern jede Sprache, dass es das Verhängnisvolle der Sprache auch ein und desselben Volkes — natürlich können wir uns ein solches nur philosophisch vorstellen — ist, von Individuen gesprochen zu werden, die dank ihrer variierenden Vererbungseinflüsse, der graduellen Verschiedenheit ihrer sinnlichen und psychischen Eindrucksfähigkeit sich ebenfalls nur missverständlich verstehen und sich niemals ganz verstehen können. Immerhin, ganz ebenso wie die gemeinschaftliche Volkssprache es Individuen verschiedener Veranlagung gestattet, sich in den allgemeinen Lebensfragen ihrer Existenz zu verständigen, ganz ebenso gestattet, richtiger ermöglicht solches auch das Esperanto unter Individuen verschiedener Nationen, dessen Entwicklung ja noch gar nicht absehbar ist und das mit jeder Einführung in weitere und weitere Kreise an solchen Elementen der Geschmeidigkeit, des Wortsinnes, der Verallgemeinerung des Selbstverständlichen — und das ist uns eigentlich das Sprachliche — gewinnt, dass seine zukünftige Evolution eine verbürgte Sache wird.
Gewiss: eignen wir uns all jene schöne Klarheit und Wortfülle der Sprache an, wie sie unsere Klassiker uns als ein erhabenes Vermächtnis hinterlassen haben. Aber bereichern wir sie auch! Und die Möglichkeit in ein fremdes Land zu gehen und im Augenblicke meiner Ankunft den dann nicht mehr "Fremden" einige gegenseitige erwärmende Herzensworte zurufen, mit ihnen sofort über die Notwendigkeit und Bedürfnisse meiner Persönlichkeit sprechen zu können, diese Möglichkeit bietet nicht nur keine der bestehenden Nationalsprachen dem Proletarier dar, nein, die Verwirklichung bedeutet für den Ankömmling die Erweiterung seines geistigen Horizontes im bedeutsamsten Massstabe, bedeutet eine sofortige, rasch gewonnene Beobachtungsschärfe, die sich auch rückwirkend auf das Können in der Muttersprache äussern kann. Esperanto ist die alltägliche, notwendige Praxis des Gedankenaustausches; Esperanto kann jener breite, sprachliche Strom werden, auf dessen Rücken sämtliche Kulturelemente der verschiedenen Nationen wechselseitig und internationalisierend nach den diversen heimatlichen Küsten und Gestaden gebracht werden können.
Aus Die Freie Generation. Dokumente der Weltanschauung des Anarchismus, 2. Jahrgang, Nr. 5, November 1907. (Quelle)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen