Januar 18, 2009

Kann Marx zum Verständnis der aktuellen Wirtschaftskrise beitragen? (Number one in a series)

"Marx ist wieder hip" schreibt der Züricher Blick, "selbst Manager fragen sich plötzlich: Hatte Karl Marx etwa doch Recht?". Die Massen reißen sich um Neuausgaben des ersten Bandes des Kapital, und erhoffen sich dadurch eine allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches Kompendium, kurz eine Erklärung für unerklärliche Zustände geliefert zu kriegen.
Allerdings kann man sich fragen, worin diese geniale Enthüllungsarbeit Marx' eigentlich bestanden haben soll. In der recht banalen Feststellung, dass es im Kapitalismus mehr oder weniger regelmäßig Krisen gibt?
Ich will im folgenden auf diesem Blog gelegentlich (wenn ich Lust und Zeit dazu finde) auf die Frage eingehen, ob die Lektüre von Marx tatsächlich etwas zum Verständnis der Finanz- und Wirtschaftskrise beitragen kann.

Fangen wir mit einem Zitat aus dem dritten Band des Kapital (nach der Erstausgabe Hamburg, 1894, S.501) an: "Der letzte Grund aller wirklichen Krisen bleibt immer die Armut und Konsumtionsbeschränkung der Massen gegenüber dem Trieb der kapitalistischen Produktion, die Produktivkräfte so zu entwickeln, als ob nur die absolute Konsumtionsfähigkeit der Gesellschaft ihre Grenze bilde."
Jeder Gewerkschafter sieht sich bestätigt und freut sich: schuld an der Krise ist letztlich also die Lohndrückerei der Arbeitgeberverbände.
Jedoch schreibt Marx im zweiten Band des Kapital (2. Auflage, Hamburg, 1893, S.409-410):

"Jede Krise vermindert die Luxuskonsumtion momentan; sie [...] wirft damit einen Teil der Luxusarbeiter aufs Pflaster, während sie andrerseits den Verkauf der notwendigen Konsumtionsmittel eben dadurch auch ins Stocken bringt und verringert. Ganz abgesehn von den gleichzeitig abgedankten, unproduktiven Arbeitern, die für ihre Dienste einen Teil der Luxusausgabe der Kapitalisten empfangen (diese Arbeiter selbst sind pro tanto Luxusartikel) und die sich sehr stark beteiligen namentlich auch an der Konsumtion notwendiger Lebensmittel etc. Umgekehrt in der Prosperitätsperiode, und namentlich während der Zeit ihrer Schwindelblüte – wo schon aus andren Gründen der relative, in Waren ausgedrückte Wert des Geldes fällt (ohne wirkliche sonstige Wertrevolution), also der Preis der Waren, unabhängig von ihrem eignen Wert, steigt. Nicht nur steigt die Konsumtion notwendiger Lebensmittel; die Arbeiterklasse (in die nun ihre ganze Reservearmee aktiv eingetreten) nimmt auch momentanen Anteil an der Konsumtion ihr sonst unzugänglicher Luxusartikel, außerdem auch an der Klasse der notwendigen Konsumtionsartikel, die sonst zum größten Teil »notwendige« Konsumtionsmittel nur für die Kapitalistenklasse bildet, was seinerseits eine Steigerung der Preise hervorruft.

Es ist eine reine Tautologie zu sagen, daß die Krisen aus Mangel an zahlungsfähiger Konsumtion oder an zahlungsfähigen Konsumenten hervorgehn. Andre Konsumarten als zahlende kennt das kapitalistische System nicht, ausgenommen die sub forma pauperis oder die des »Spitzbuben«. Daß Waren unverkäuflich sind, heißt nichts, als daß sich keine zahlungsfähigen Käufer für sie fanden, also Konsumenten (sei es nun, daß die Waren in letzter Instanz zum Behuf produktiver oder individueller Konsumtion gekauft werden). Will man aber dieser Tautologie einen Schein tiefrer Begründung dadurch geben, daß man sagt, die Arbeiterklasse erhalte einen zu geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, s0 ist nur zu bemerken, daß die Krisen jedesmal gerade vorbereitet werden durch eine Periode, worin der Arbeitslohn allgemein steigt und die Arbeiterklasse realiter größern Anteil an dem für Konsumtion bestimmten Teil des jährlichen Produkts erhält. Jene Periode müßte – von dem Gesichtspunkt dieser Ritter vom gesunden und »einfachen« (!) Menschenverstand – umgekehrt die Krise entfernen. Es scheint also, daß die kapitalistische Produktion vom guten oder bösen Willen unabhängige geringen Teil ihres eignen Produkts, und dem Übelstand werde mithin abgeholfen, sobald sie größern Anteil davon empfängt, ihr Arbeitslohn folglich wächst, so Bedingungen einschließt, die jene relative Prosperität der Arbeiterklasse nur momentan zulassen, und zwar immer nur als Sturmvogel einer Krise."

Nun steht diese (empirisch nicht haltbare) Feststellung, dass lediglich im Vorfeld einer Krise die Löhne ansteigen können, ja ganz offensichtlich im Widerspruch zum oben zitierten Satz aus dem dritten Band des Kapital, wo Marx eine Unterkonsumtionstheorie in der Tradition Sismondis entwickelt (ein Widerspruch, der bereits Eduard Bernstein aufgefallen ist, Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie, Stuttgart, 1899, S.67). Es ist also zunächst festzustellen, dass Marx noch nicht mal innerhalb der drei Bände des Kapitals eine einheitliche Krisentheorie vertritt. (wird fortgesetzt)

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