Mai 30, 2013

199 Jahre Michail Aleksandrovič Bakunin

"Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Autorität; beide sind voneinander unzertrennlich und führen zur Knechtung der Gesellschaft und zur Verdummung der Gesetzgeber selbst.
Folgt heraus, dass ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt oder der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Achtung an, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemanden unbedingten Glauben. Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.
Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewissheit, dass sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen ließen.
Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewusst, dass ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder Geleiteter. Es gibt also keine stetige und feststehende Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist.
Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande wäre, mit jenem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozialen Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, dass eine solche Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich derselben bedienen wollte, um uns seine Autorität aufzuzwingen, so müsste man diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle anderen zur Sklaverei und zum Schwachsinn herabdrücken würde. Ich meine nicht, dass die Gesellschaft Männer von Genie misshandeln soll, wie sie es bis jetzt getan hat. Aber ich meine ebensowenig, dass sie sie zu fett machen, vor allem ihnen irgendwelche Vorrechte oder ausschließlichen Rechte einräumen soll, und dies aus drei Ursachen: erstens weil es ihr oft vorkommen würde, einen Marktschreier für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses System von Vorrechten selbst ein wahres Genie in einen Quacksalber verwandeln, demoralisieren, dumm machen kann, und endlich, weil sie sich einen Despoten geben würde.
Ich fasse zusammen. Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat, als die sorgfältige und möglichst systematische Wiedergabe der im materiellen, geistigen und moralischen Leben der physischen und der sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser Autorität, der einzig rechtmäßigen, weil vernünftigen und der menschlichen Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Autoritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und verhängnisvoll.
Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In unserer Kirche — man erlaube mir einen Augenblick, dieses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verabscheue; beide, Kirche und Staat, sind mir unausstehlich [sont mes deux betes noires] —, in unserer Kirche wie in der protestantischen Kirche haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und wie die Protestanten, sogar konsequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen unfehlbarer Kardinale, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet sich vom protestantischen und christlichen Christus darin, dass letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als dass sie nie zur Verwirklichung gelangen wird. Wenn wir nur die unbedingte Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel.
Ich verstehe unter "absoluter Wissenschaft" die wirklich universelle Wissenschaft, die das Universum, das System oder die Zuordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äußernden Naturgesetze, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es ist klar, dass diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner bevorrechteten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muss. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität aufzulegen die Anmaßung haben würden, werden wir uns auf Gott den Vater berufen, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der nur allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst sind — die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, genießen und leiden.
Aber während wir die unbedingte, universelle und unfehlbare Autorität der Männer der Wissenschaft zurückweisen, beugen wir uns gern vor der achtenswerten, aber relativen und sehr vorübergehenden, sehr beschränkten Autorität der Vertreter der Spezialwissenschaften und verlangen nichts Besseres, als sie zu befragen, wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die sie uns geben, unter der Bedingung, dass sie selbst bereit sind, von uns gleiche Angaben anzunehmen über Dinge und in Fällen, in denen wir gelehrter sind als sie. Im allgemeinen ist es uns ganz erwünscht zu sehen, dass Männer von großem Wissen, großer Erfahrung, großem Geist und vor allem großen Herzens auf uns einen natürlichen, rechtmäßigen, frei angenommenen Einfluss ausüben, der nie im Namen irgendeiner offiziellen, himmlischen oder irdischen Autorität auferlegt wird. Wir nehmen alle natürlichen Autoritäten und Einflüsse an, die im Wesen der Sache, nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluss dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, Sklaverei und Unsinn aufzwingen.
Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, dass sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können.
In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten."
Aus: Gott und der Staat, geschrieben 1871, zuerst veröffentlicht 1882.

Mai 28, 2013

116 Jahre Camillo Berneri

Für die Leser meines Blogs, die des Italienischen mächtig sind...
Ich verstehe zwar auch nicht alles, hört sich doch aber toll an, oder? 

Mai 23, 2013

Dreimal RIP

Ray Manzarek - Crystal Ship (live 2012)

Uriah Heep (ausnahmsweise mit Bassist Trevor Bolder als Sänger) - Fear of falling (1995)

Georges Moustaki - Ma liberté (1969)

Mai 19, 2013

Psychedelisches zu Pfingsten


The Holy Ghost Reception Committee #9 - Know they're you (1969)

Mai 15, 2013

Hinweis

L for Liberty wird wieder etwas belebter... JayJay hat ein Plädoyer für das Ausländerwahlrecht geschrieben, CK eine Gegenargumentation dazu und ich einen Gegenstandpunkt zur ganzen Debatte.

Viel Spass bei der Lektüre!

Mai 09, 2013

Psychedelische Himmelfahrt

Steven R. Smith - Ascension (2006)

Mai 06, 2013

Begriffsverwirrung

Gelesen bei der Freiheitsfabrik:
"Zum Schluss ließ sich Michael Wilk auch nicht lumpen, unter Beifall bekannt zu geben, nein, nein, nicht alles, was der Staat mache, würde er negativ bewerten, ganz im Gegenteil, soziale Errungenschaften wie die Rentenversicherung seien ihm lieb und teuer. (...) Ich fasse es nicht, das bürokratische Monster schlechthin, die Massenenteignung, das Produkt Bismarckscher Sozialpolitik und beileibe keine Errungenschaft der Arbeiterklasse – das als Ideal eines 'Anarchisten'? Was für Fehler unsere linken Vettern im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert auch hatten – solche Etatisten waren sie nicht, Michael Bakunin nicht, Emma Goldmann nicht, selbst Peter Kropotkin nicht, Pierre-Joseph Proudhon schon gar nicht. Bitte bitte, gebt uns doch den Begriff  'Anarchismus' zurück, ihr 'Umweltaktivisten' und anderen Staatsanbeter."
Den restlichen Text plus den betreffenden Vortrag von Stefan Blankertz findet man hier.

Mai 05, 2013

Psychedelisches zu Marxens 195ten

Marx was a Broker - Marx IX (2011)

Bonus:
Floh De Cologne - Was ein Kommunist trinken darf (1972)

Mai 03, 2013

127 Jahre Ixigrec

Undatierte Postkarte des L'En-Dehors (Quelle und mehr hierzu: http://cartoliste.ficedl.info/mot2438.html?lang=fr)
Mehr zu Robert Collino alias Ixigrec: http://militants-anarchistes.info/spip.php?article929

Mai 01, 2013

Zum ersten Mai

"Seven men are to die in Chicago, and the pulpit and the press, the gig-men, aye, and even the proletariat, unite in joyful hymns and bless God that he has saved society once more. Seven men of more than usual intelligence, and far more than usual devotion to principle, weary of seeing age-long injustice, of hearing the groans of the down-trodden millions, or, what is worse, of seeing them suffer dumbly, risked all in an attempt to set things right. They failed, and by the laws of war they are to die. Yet it must be remembered that the worst that can be said of them is the best that can be said of the victors, — that they sought to produce good through evil. Without sin they doubtless are not, but they sinned through the excess of their love.
(...)
The old International Working-People's Association declared it axiomatic that the emancipation of the working-classes must be effected by themselves, and it is time that we begin to comprehend the full significance of the declaration. It does not mean simply that we are not to place our reliance on the bourgeoisie and aristocracy, as is generally understood by half-trained revolutionists; but that a revolution, to be effective, must be popular. A social revolution can not be accomplished by a man or a clique. The people can be freed only by themselves. As long as they remain indifferent, no one can save them from being slaves, and those who seek to force them to be free but doom themselves to disappointment and death. What is left, then, for the intelligent revolutionary minority is to diffuse its principle to the utmost, to awaken public attention, and prepare for the nullification of the State by passive resistance. This is the course best for the minority and best also for the multitude, for a comparatively small minority, keeping strictly on the defensive and simply refusing to support the existing order of things, can succeed in obtaining its freedom; and, though it cannot compel the majority to be free, it can teach it the advantages of freedom in the most effective way,—by example". John F. Kelly.
Aus Liberty, vol. IV, 9 (=87), 18. September 1886.